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Stiller

Stiller

Titel: Stiller
Autoren: Max Frisch
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Abfall einer fernen und kaum noch vorstellbaren Zivilisation, und um die fünf Hütten aus ungebranntem Lehm, fensterlos wievor tausend oder zweitausend Jahren, wimmelte es natürlich von Kindern. Gelegentlich fuhren wir weiter. In der Ferne sahen wir die roten Gebirge, doch kamen sie nicht näher, und oft, wiewohl man den kochenden Motor hörte, konnte ich einfach nicht unterscheiden, ob man eigentlich fährt oder nicht fährt. Es war, als gäbe es keinen Raum mehr; daß wir noch lebten, zeigte uns nur noch der Wechsel der Tageszeit. Gegen Abend streckten sich die Schatten der haushohen Kakteen, auch unsere Schatten; sie flitzten neben uns her mit Hundertmeterlänge auf dem Sand, der nun die Farbe von Honig hatte, und das Tageslicht wurde dünner und dünner, ein durchsichtiger Schleier vor dem leeren All. Aber noch schien die Sonne. Und in der gleichen Farbe wie die Kuppen von Sand, die von der letzten Sonne gestreift wurden, erschien der übergroße Mond aus einer violetten Dämmerung ohne Dunst. Wir fuhren, was unser Jeep herausholte, und dabei nicht ohne jenes feierliche Bewußtsein, daß unsere Augen durchaus die einzigen sind, die all dies sehen; ohne sie, ohne unsere sterblichen Menschenaugen, die durch diese Wüste fuhren, gab es keine Sonne, nur eine Unsumme blinder Energie, ohne sie keinen Mond; ohne sie keine Erde, überhaupt keine Welt, kein Bewußtsein der Schöpfung. Es erfüllte uns, ich erinnere mich, ein feierlicher Übermut; kurz darauf platzte der hintere Pneu.
    Ich werde die Wüste nie vergessen!
    Ich sitze in meiner Zelle, Blick gegen die Mauer, und sehe Mexiko, die schwimmenden Gärten von Mexiko, Gondeln auf bräunlichem Gewässer mit blinkenden Spiegelungen der Bläue, Gondeln, die fast lautlos gleiten, alle mit frischen Blumen verziert, ein Korso auf Kanälen, ringsum die Gärten voll ewigem Frühling, Arkadien, aber indianisch. In einem schmalen Kanoe, dessen Rand kaum über das bräunliche und unter den Rudern blaternde Wasser ragt, paddelt sich eine alte Indianerin heran, ihren Säugling auf dem Rücken gebunden; mit weicher leiser Stimme bietet sie ein Sträußlein an, Orchideen, wie ich sie nie gesehen habe, gebüschelt mit einem meisterlichen Geschmack aus alter Herkunft. Die Azteken hatten kein Fest ohne Blumen. Ein andrer, ein Mischling, will Pulque verkaufen, den mexikanischen Volksschnaps, hergestellt aus dem Saft der Agaven; er schwenkt den Becher in dem trüben Gewässer und reicht mir das Getränk. Es schmeckt nach Gärung, nach klebriger Schwüle und Süßlichkeit der Tropen. Und ringsum in den Gondeln sitzen Familien mit Kind und Kegel, es ist Sonntag (wie heute), alles ißt und trinkt und läßt es sich wohl sein. Ein Liebespaar im ersten Anfang, sie sitzen aufrecht nebeneinander undhalten sich die Hand, hat eine Gondel voll Musikanten gemietet, voll Gitarren und mexikanischen Riesenhüten, voll Honigstimmen aus dunklen Räubergesichtern. Es ist ein Korso des Volkes, halb echt und halb Kitsch, und ich denke an die Wüste zurück: Das ist es, was die Menschen machen auf Erden! Ein junges Mädchen liegt bäuchlings auf dem Bug einer Gondel, läßt beide Arme in das langsam ziehende Wasser hangen, stillselig, während anderswo ein lautes Gelächter platzt. Die meisten aber sind still, wie gesagt, und fast stumpf, mindestens dösig; ich sehe Gesichter, die schön sind wie aus einem verlorenen Paradies, fremd, ein allerletzter Rest von der großen Stadt der Azteken, die von einem See umgeben war, zugänglich nur auf zwei Dämmen, ein indianisches Venedig, wie die spanischen Chronisten es nannten. Für die Indianer, die ja das Rad nicht kannten, war das Wasser der beste Weg, und der See muß paradiesisch gewesen sein; Teile vom Ufer, heißt es, lösten sich ab und schwammen als Inseln mit ihren Blumen. Die Indianer, das Blumenvolk, flochten Flöße aus Rohr, luden Erde darauf und Tang, pflanzten sogar kleine Bäume und ruderten diese blühenden Inseln umher; daher der Name: Die schwimmenden Gärten. Der See ist später versumpft, vertrocknet bis auf diese bescheidene Pfütze, wo nun die sonntäglichen Gondeln, halb echt und halb kitschig, gerade noch an den Untergang eines wunderbaren Volkes erinnern, und das moderne Mexiko, die City mit ihren schlechten und ihren guten Hochhäusern, steht buchstäblich auf einem Morast, man sieht es, wie ihre Bauten in den Boden versinken, unaufhaltsam, einige Zentimeter jedes Jahr ... Und ich sehe das rötliche Land ringsum, die Pyramiden, die
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