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Stiller

Stiller

Titel: Stiller
Autoren: Max Frisch
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Lava, die tote Schlange auf der Straße, von einem Pneu zerquetscht, und die Aasgeier, die warten, und ich sehe die wuchernden Orchideen an den Telefondrähten, die großen und wie Pilze geformten Hüte der mexikanischen Männer, ihre weißen Baumwollblusen, dazu ihre rötliche Haut. Markt in Mexiko! Man erinnert sich an Farbfilme, und genau so ist es, malerisch, sehr malerisch, und doch, in Wirklichkeit, gibt es Augenblicke, wo man sich plötzlich fürchtet. Es stinkt nach einem toten Hund. Kinder sitzen mit nacktem Hintern auf dem Unrat, auf der Fäulnis alter Früchte. Auf dem Boden liegt die Ware, ich sehe sie noch heute: Bohnen und Erbsen, Nüsse, Früchte, die ich zum erstenmal sehe, dazwischen Zuckerzeug, von Fliegen umwimmelt, und Fische, die in der glühenden Sonne verwesen. Ein Schreiner nebenan zimmert Kindersärge, stapelweise, roh und billig. Und Bäuerinnen, die auf dem Pflaster hocken, verkaufen Töpferei, Erinnerung an indianische Muster,aber roh und billig. Wunderbar sind die vielen Blumen, deren Duft aber nicht aufkommt; wo es nicht nach dem entsetzlichen Fleisch stinkt, das an der Sonne verdirbt, stinkt es nach Kloake, und man muß sich zusammennehmen, daß man den Ekel nicht auf die Menschen überträgt. Es ist kein Slum, was ich sehe, sondern ein Markt unter offenem Himmel, und der Ort heißt, glaube ich, Amecamea, ein schöner Markt, nicht traurig, nur unheimlich. Die Verrotzung hat etwas Dämonisches, etwas von einem Fluch, der alles, was da blühen und duften könnte, in Gestank verwandelt, in Fäulnis und Verwesung. Und der Mensch wehrt sich schon gar nicht mehr; niemand räumt den toten Hund zur Seite; nur manchmal scheucht man mit müder Bewegung wenigstens die Fliegen weg, bevor man die Tortilla in den Mund schiebt. Klumpfüße und andere Verkrüppelungen gehören dazu, Sonne und Bläue wirken wie ein blanker Hohn. Ein Gefühl: Was ist los? begleitet mich seltsam. Aber nichts ist los! Alles ist sehr malerisch, das milde Bernsteinlicht unter den großen Tüchern, darunter die Gesichter der fremden Frauen; darüber der verbröckelnde Barock einer spanischen Kirche, ein Kreuz aus Grünspan, Orchideen überall. Und zwischen den grünen Blättern der Bananenpalmen, die wie große zerfranste Fahnen hangen, sehe ich den ewigen Schnee auf dem Popocatepetl, dem Rauchenden Berg, der nicht mehr raucht, ein weißes Zelt, wunderbar. Wo ist das Unheimliche? Und wo immer unser Wagen stoppt, um Benzin zu tanken, sehe ich einen Blinden, der die Hand streckt. In den Kaffeeplantagen gibt es eine Fliege, deren Stich zuerst einen eitrigen Pickel verursacht, der sich entfernen ließe; doch gibt es keinen Arzt, kein Geld für einen Arzt. Dann gehen die Maden ins Blut, schließlich in die Augen, die nun wie Spiegeleier zerlaufen, ein weißlich-gelblicher Brei. So stehen sie da, Greise und Knaben, blind und mit leerer Hand. Einer singt zur Drehorgel. Und auf den Dächern hocken die Zopilote, die großen stinkenden Vögel, die, wenn man auf einsamen Wegen fährt, oft scharenweise aufflattern von einem Kadaver, von einer zerquetschten Schlange, von einem verwesenden Esel oder von einem Ermordeten, den noch niemand vermißt; man sieht sie allenthalben, diese Vögel, schwarz und häßlich und plump hocken sie auf den Dächern über dem malerischen Markt: Aasgeier, die Vögel von Mexiko.
    Und doch war es schön!
    Warum bin ich nicht drüben geblieben –
     
     
    Zum Glück ist mein Staatsanwalt (oder Untersuchungsrichter; ich kenne mich in diesen Dingen nicht aus) eine sympathische Persönlichkeit, ein Skeptiker, der auch sich selbst nicht alles glaubt, übrigens der erste mit der Höflichkeit, zu klopfen, bevor er in die Zelle tritt.
    »Ich denke«, lächelte er, »Sie wissen, wer ich bin.«
    »Herr Staatsanwalt?«
    Sein Lächeln bleibt mir unerklärlich. Beide Hände in die Rocktaschen geschoben, irgendwie befangen – mein allererster Eindruck: Was will mir dieser Mann gestehen? – mustert er mich lange, vergißt sich wie in heimlichen Gedanken, die ihn betreffen, und wirkt für eine Weile wie taub, mustert mich so unverhohlen, wie Erwachsene es selten tun, und jedenfalls länger als anständig, so daß er, da es ihm bewußt wird, ein wenig errötet. »Sie rauchen?« fragte er, und da ich ablehne, fügt er, indem er sich selbst mit einer Zigarette bedient und nach seinem Feuerzeug sucht, hinzu: »– ich komme übrigens ganz persönlich. Betrachten Sie es keineswegs als ein Verhör. Es drängte mich, Sie
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