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Stiller

Stiller

Titel: Stiller
Autoren: Max Frisch
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ich, in der Tat, jemand anders sein könnte als ihr verschollener Herr Stiller. Aber wer? Ich mache ihm Vorschläge: vielleicht ein sowjetischer Agent mit amerikanischen Papieren. Er verbittet sich Witze, alles Sowjetische eignet sich seiner Meinung nach sowieso nicht für Witze; das ist einfach zu böse, so wie anderseits alles Schweizerische einfach zu gut ist, um sich für Witze zu eignen. Ich schlage vor: Vielleicht bin ich ein SS-Mann, der eine Weile untergetaucht ist und wieder Einsatz wittert, der unbekannte Kriegsverbrecher mit Ost-Erfahrung, die sehr gefragt ist. Wie beweise ich aber, daß ich ein Kriegsverbrecher bin? Ich kann’s noch so treuherzig behaupten, ohne Beweis lassen sie mich nicht auf freien Fuß. Mein Verteidiger glaubt mir nicht einmal, daß Mexiko schöner ist als die Schweiz. Er wird, sobald ich erzähle, nur nervös:
    »Was hat das mit unserer Sache zu tun!«
    Wie man der Kobra, um sie zu dem berühmten Schlangentanz der Indios gebrauchen zu können, den Giftzahn ausreißt, interessiert meinen Verteidiger nicht. Wie die Indios sich zum Tode stellen, noch weniger. Wer die Ermordung der mexikanischen Revolutionäre veranlaßte, auch nicht. Unddaß den Aasgeiern der mexikanische Himmel, den Amerikanern aber die mexikanischen Bodenschätze gehören, bezweifelt er. Es ist wirklich nicht leicht, diesen Mann täglich eine Stunde lang zu unterhalten.
    Mitten in der Erzählung, die wenigstens mich selbst begeistert, unterbricht er:
    »Orizaba – wo liegt das?«
    Dazu zückt er seinen Eversharp, läßt keine Ruhe, bis er meine ebenso höfliche wie knappe Antwort notieren kann; sofort fragt er weiter:
    »Und dort haben Sie also gearbeitet?«
    »Das habe ich nie behauptet!« sage ich, »Geld habe ich verdient und gelebt.«
    »Wie?«
    »Danke«, sage ich, »ausgezeichnet.«
    »Ich meine: wie haben Sie das Geld verdient?«
    »Wie man das Geld eben verdient –«, sage ich, »jedenfalls nicht mit eigener Arbeit.«
    »Sondern?«
    »Mit – Ideen«, sage ich.
    »Erklären Sie sich genauer.«
    »Ich war so eine Art von Verwaltungsrat –«, sage ich und mache eine Geste biederen Gewinns, »– auf einer Hazienda.«
    Die Geste will er nicht gesehen haben.
    »Was heißt Hazienda?«
    »Großgrundbesitz«, sage ich, schildere ausführlich genug meine Position, die unscheinbar war, aber Treffpunkt der unerläßlichen Schmiergelder von beiden Seiten, und meine diesbezüglichen Ideen, dann auch die topographische Lage von Orizaba, die paradiesisch ist, nahe der tropischen Zone, jedoch gerade noch über dieser Zone, die ich nicht leiden kann mit ihrem schwülen Gewucher, mit ihren üppigen Schmetterlingen, mit ihrer schleimigen Luft und ihrer feuchten Sonne, mit ihrer klebrigen Stille voll mörderischer Befruchtung, gerade noch über dieser Zone liegt Orizaba auf einem Plateau, das die Lüfte aus dem Gebirge hat, hinter sich sieht man den weißen Schnee des Popocatepetl, vor sich den verblauenden Golf von Mexiko, eine Riesenmuschelbläue, ringsum aber einen blühenden Garten etwa von der Größe eines schweizerischen Kantons, blühend von Orchideen, die hier wie Unkraut wuchern, doch blühend auch von nützlichen Gewächsen: Dattelpalmen, Feigen, Kokospalmen, Orangen undZitronen, Tabak, Oliven, Kaffee, Ananas, Kakao, Bananen usw... . Heute kommt meine Verteidiger:
    »Sie scheinen über Mexiko nicht sehr unterrichtet zu sein.«
    Mein Verteidiger hat gearbeitet.
    »Was Sie mir gestern erzählt haben, stimmt ja hinten und vorne nicht – Bitte sehr«, sagt er und zeigt mir ein Buch aus der Städtischen Bibliothek: »Schon Benito Juarez verfolgte das Ziel, den Großgrundbesitz abzuschaffen. Es mißlang. Porfirio Diaz wurde gestürzt, weil er mit den Großgrundbesitzern regierte, und es folgte, wie Sie vielleicht wissen, eine ganze Kette blutiger Revolutionen, um den Großgrundbesitz abzuschaffen. Es wurden Klöster verbrannt, Großgrundbesitzer erschossen, und es endete mit einer Diktatur der Revolutionäre. All das können Sie hier nachlesen. Bitte sehr. Und Sie erzählen mir von einer blühenden Hazienda, die so groß sein soll wie ein schweizerischer Kanton –«
    »Ja«, sage ich, »wenn nicht größer.«
    Mein Verteidiger schüttelt den Kopf.
    »Warum erzählen Sie mir solche Hirngespinste?« sagt er. »Sie müssen doch einsehen, daß wir auf diese Weise nie weiterkommen. Es stimmt einfach nicht! Wahrscheinlich sind Sie nie in Mexiko gewesen.«
    »Bitte«, sage ich, »wie Sie wollen.«
    »Wer soll denn eine
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