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Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich
Autoren: Wo die Löwen weinen
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der Wohlstandsverlierer fürchten mußten, waren sie in Stuttgart mit
einer wachsenden Gruppe rebellierender Fachleute konfrontiert. Und wer noch
kein Fachmann war, der wurde es.
    Nirgends auf der Welt hatten die Menschen derart viel
Ahnung von Bahnhofsarchitektur, Gleiswesen, Fragen der Statik und Tektonik, der
Finanzmathematik und Steuerkalkulation, der Luftbelastung im Zuge städtischer
Verbaustellung und was da sonst noch dazugehörte. Es war kaum noch möglich,
jemandem zu begegnen, der nicht in diesen Thematiken bewandert war. Mitunter
nervte das. Jeder zweite ein selbsternannter Architekt, jeder dritte ein
versierter Denkmalschützer, von den Rechenkünstlern ganz zu schweigen. Diese
Leute konnten einen vollquatschen, bis man bewußtlos umfiel. Schlimm! Aber
alle diese Leute hatten - und das war nun wirklich der Punkt -, ja sie hatten
recht, sie hatten die Mathematik auf ihrer Seite, die Geometrie, die Physik,
letzten Endes die Naturgesetze. Und genau dieser Kenntnisreichtum drängte so
viele auf die Straße, auch wenn die wenigsten zum Demonstrieren geboren
schienen. Ihr Demonstrationsgehabe wirkte unbeholfen, als hätten sich ein paar
Kricketspieler auf eine Eistanzfläche verirrt. Aber sie blieben auf dieser
Eisfläche, hielten sich so aufrecht es ging und analysierten wortreich die
Beschaffenheit des gefrorenen Wassers, auf dem sie da standen.
    Diese nach langer Selbstbrütung aus besagter ohnmächtiger
Schulterzuckerei herausgeschlüpften Menschen fürchteten nicht nur um ihre
Stadt, sondern gleichermaßen um die Erkenntnisse, die sie sich erworben hatten.
Was sie erlebten, war ein Gegenbeweis für jene alte Theorie, die Macht würde
von den Wissenden ausgehen. Denn die Wissenden waren sie ja selbst. Somit war
der Schwindel offenkundig: Jeder konnte erkennen, wie sehr die Macht auch ganz
ohne Wissen funktioniert und daß jener Gedanke Nietzsches Bestand hat, der die
Macht als Folge des Willens sieht. Der Wille erzeugt die Macht, nicht das
Wissen, nicht die Bildung. Und nirgends ist der Bildungsbürger machtloser als
in deutschen Landen. Doch diese Leute dort in Stuttgart hatten sich
entschlossen, die Bildung ins Gefecht zu werfen. Sich selbst und ihr Wissen.
Sosehr sie nerven mochten, ihr Verstand blühte. Der blühende Verstand wiederum
machte den Politikern und Investoren schwer zu schaffen, weil der Verstand ja
nicht zu Hause blieb, sondern sich auf die Straße begab. Das war man vom
Verstand nicht gewohnt, dieses eher unbiedermeierliche Aufbegehren.
    Das alles war an Rosenblüt recht spurlos vorübergegangen.
Er hatte die Diskussion und die zunehmend heftigeren Auseinandersetzungen nur
so nebenbei wahrgenommen, war auch viel zu sehr in seine Münchner Arbeit und
das Münchner Leben verstrickt gewesen, um sich darum zu kümmern, was in seiner
Heimatstadt ablief. Allerdings bestand Kontakt zu einigen Kollegen von früher,
etwa zu Doktor Thiel, seinem ehemaligen Assistenten.
     
    Der Jurist Thiel war ein typischer Vertreter jener ersten
Generation von Befürwortern eines Neubaus, die in der Zwischenzeit umgefallen
waren. Und wie es schien, sogar gerne umgefallen waren. Thiel hatte anfangs
argumentiert, daß ein derart umfangreiches Projekt Chancen für eine
Neuorientierung der Stadt biete und eine Großstadtwerdung ermögliche. Auch er
litt ein wenig unter dem Verdacht, als Stuttgarter in der "Provinz"
zu leben. Dann aber war ihm bewußt geworden, was für ein Geist das ganze
Projekt bestimmte und daß es mitnichten darum ging, einen Bahnhof unter die
Erde zu kriegen, sondern soviel Geld als möglich. Die Gigantomanie der
geplanten Höhlenarchitektur ergab sich aus der inneren Logik einer gewollten
Verschwendung. Gewollte Verschwendung war ein wichtiger Bestandteil modernen
Wirtschaftens. Viele Zweige, allen voran die Bauwirtschaft, hätten ohne die
Philosophie des Verschwendens nicht auf die Weise existieren können, wie sie
existierten. Das war natürlich nicht neu, schon gar nicht für den Akademiker
Thiel. Aber er empfand sich selbst als "realpolitisch" und
akzeptierte eine gewisse Ausgewogenheit zwischen der Verschwendung, die
einigen nutzte, und den in der Verschwendung einsitzenden Kernobjekten, die
allen nutzten.
    Doch bei Stuttgart 21 war alles anders. Endlich einmal
sollte die Verschwendung ganz aus sich alleine bestehen und sich nicht erst mittels
eines Kerns rechtfertigen. Die Verschwendung sollte völlig frei sein von den
Feigenblättern des Sozialen und Demokratischen. Sie sollte nackt und
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