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Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich
Autoren: Wo die Löwen weinen
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dem Raum.
    Der Hausherr öffnete die Eingangstüre und streckte die
Hand aus. Rosenblüt ergriff sie. Kurz zuckte er zusammen. Aus dem einfachen
Grund, weil sein Gehirn einen Kontakt registrierte, der nicht zu erwarten
gewesen war - Papier statt Haut. In der Innenfläche der Uhlschen Hand befand
sich ein gefaltetes Stück, das nun den Besitzer wechselte.
    Rosenblüt unterließ eine Bemerkung. Schlimm genug, daß er
gezuckt hatte. Das geschah jetzt hin und wieder. Bei allem selbstsicheren
Auftreten meldete sich das Alter. Nicht nur aus dem Winkel der Liebe.
    "Machen Sie's gut, Herr Uhl", sagte Rosenblüt
und ging.
    Der Professor sah ihm nach, schweigend, erneut die Zunge
zwischen die Lippen klemmend. Die grünen Streifen auf seinem blanken Schädel
aber waren verschwunden. Er war jetzt wieder frei von Kunst, kein blauer Reiter
mehr, sondern ein grauer Geologe.
     
    Erst als Rosenblüt in seinem Wagen saß, öffnete er die
Faust und entfaltete den Zettel. Selbiger war aus einem Magazin herausgerissen
worden. Das Papier besaß die Festigkeit und den Glanz aller Kostspieligkeit.
Vor dem Hintergrund einer mehrfarbigen, jedoch im Ausschnitt undefinierbaren
Grafik stand ein einziger Begriff: Stuttgart 21.
    "Herrgottsack!" entfuhr Rosenblüt nun doch ein
schwäbischer Fluch, eine für diesen Dialekt typische Beschwörungsformel. Das Humorige
solcher Ausdrücke war bitterernst, die Komik spitz und scharf und sadistisch.
Eine Komik von der Art eines herabsausenden Fallbeils. Den meisten Spaß hatte
das Fallbeil selbst. - Es war Rosenblüt stets peinlich, wenn ihm eine derartige
Phrase entglitt, selbst wenn er alleine war. (Er gehörte zu den Menschen, die
den Verdacht hegten, man sei nie so ganz
alleine. Daß das völlige Alleinsein auf einem Aberglauben der Aufklärung
beruhe.)
    Stuttgart 21 also. Für Leute, die von dieser Stadt keine Ahnung
oder bloß aus der Ferne ein paar verwaschene Eindrücke gewonnen hatten, klang
dieser Terminus (wie auch sein gängiges Kürzel S 21) wie ein zwischenzeitlich
überholter Werbespruch oder Filmtitel aus den 70er oder 80er Jahren des vorigen
Jahrhunderts, als man sich die Zukunft noch gigantisch vorgestellt hatte:
augenbetäubend, glitzernd, selbst die Katastrophe ein Wegweiser, das Weltall
ein offenes Tor. - Wenn man sich Filme wie 2001 und seinen
Nachfolger 2010 ansieht und dies mit der Realität
von 2001 und 2010 vergleicht und auf der anderen Seite Orwells 1984 mit dem
tatsächlichen 1984, muß man feststellen, daß die Eroberung des menschlichen
Geistes um einiges leichter zu sein scheint als die Eroberung jener "unendlichen
Weiten".
    So gesehen war es verständlich, daß sich ein
Uneingeweihter bei der Bezeichnung Stuttgart 21 an die Zahnpasta Strahler
70 erinnert fühlen mochte, jene Zahnputzcreme, die mit einem
gar wundersamen Poem gelockt hatte: "Strahlerküsse schmecken besser /
Strahlerküsse schmecken gut! / So ein Strahlerkuß / ist ein Hochgenuß / und was
sich küßt, das liebt sich / ja das macht strahlersüchtig! / ..." Etwa zur
gleichen Zeit war auch noch die Creme 21 auf den
Markt gekommen, deren Benutzern die Werbung eine Junge Haut" versprochen
hatte. Aber Versprechen kommen primär in die Welt, um gebrochen zu werden.
Sowenig die Phantasien von Raumschiffen und Mondstationen und fliegenden
Stadtbahnen sich verwirklicht hatten, sosehr waren die Gebisse und die Haut der
Menschen aus den 70er Jahren dem Zahn der Zeit erlegen. Man hätte also meinen
können, bei Stuttgart 21 handle es sich um eine längst verblaßte Träumerei,
einen nicht mehr ganz frischen Strahlerkuß, ein zu Tode gewaschenes Riesenstück
weißer Wäsche. Doch das war der Irrtum derer, die sich nicht auskannten.
    Rosenblüt kannte sich aus.
Natürlich tat er das. Damals, als er die Stadt verlassen hatte, hatten sich
erste Bürgerproteste gegen dieses getarnte Immobilienprojekt, gegen diese
Verwandlung eines oberirdischen Kopfbahnhofes in einen unterirdischen
Durchgangsbahnhof unüberhörbar gerührt. Überraschende Proteste in einer Stadt,
deren Bürger sich über so lange Zeit lediglich in der Kunst ohnmächtigen
Schulterzuckens geübt hatten. Eine Kunst, die man wie alle Kunst besser oder
schlechter ausüben kann. Doch die Virtuosität körpersprachlicher Bruddelei war
den immer lauter werdenden und zum Schrecken der Politik auch noch
sachverständigen, ja geradezu im Sachverstand kulminierenden Einmischungen der
Bürger gewichen. Während anderswo in Europa die Eliten eher die Wut der
Vorstädte,
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