Stehaufmaennchen
1. Ankunft
25. März 1960, 10 Uhr 3
Eine Stimme reißt mich aus meinen Träumen. »Pressen! Pressen!« Ich presse wie verrückt, aber anscheinend bin ich gar nicht gemeint. Plötzlich sehe ich am Ende des Tunnels ein Licht – ist das schon mein Ende?
10 Uhr 8
Zum ersten Mal im Leben blicke ich in ein anderes Gesicht – das einer 70-jährigen Nonne. Bin sehr erschrocken. Das soll meine Mama sein? Will sofort wieder zurück! Die Nonne hat sich auch erschrocken, denn sie brüllt: »Mein Gott, was für ein Riesenbaby!« Frage mich, wen sie damit meint.
10 Uhr 12
Die Nonne haut mir auf den Hintern. Obwohl ich gar nix gemacht hab! Haue zurück und gebe meine erste Äußerung von mir. Einen Schrei. Alle freuen sich.
Im Bett liegt eine Frau, die mich anlächelt. Das ist also Mama. Schon besser. Will zu ihr, darf aber nicht. Stattdessen rennt die blöde Nonne aufgeregt mit mir raus und zeigt mich überall rum. Alle gucken mich an und lachen. Mein erster Auftritt. Beschließe, Komiker zu werden. Bin sicher, dass der Erfolg bei meinem Publikum mit meinem gewinnenden Lächeln zu tun hat und nicht, wie die blöde Nonne sagt, mit meinem Gewicht von knapp vierzehn Pfund.
10 Uhr 16
Die Vorstellung ist vorbei und ich darf endlich zu Mama. An ihrer Brust nehme ich die erste Mahlzeit meines Lebens ein. Lecker, was da so rauskommt! Und praktisch, dass sie gleich zwei davon hat. So kann ich mir direkt einen Nachschlag holen.
11 Uhr
Lerne Papa kennen. Ist okay. Allerdings hat er keine Brüste.
26. März 1960
Gegessen. Geschlafen. Gegessen. Bäuerchen gemacht. Geschlafen. Windel voll gemacht. Frische Windel bekommen. Geschlafen.
27. März 1960
Gegessen. Geschlafen. Gegessen. Bäuerchen gemacht. Geschlafen. Windel voll gemacht. Frische Windel bekommen. Geschlafen.
28. März 1960
Gegessen. Geschlafen. Gegessen. Bäuerchen gemacht. Geschlafen. Windel voll gemacht. Frische Windel bekommen. Geschlafen.
29. März 1960
Bringe etwas Abwechslung in mein Leben. Gegessen. Geschlafen. Windel voll gemacht. Frische Windel bekommen. Windel direkt wieder voll gemacht. Geschlafen. Prima! Wenn mein Leben so weitergeht, bin ich zufrieden!
2. Leben auf dem Lande
2. August 1964
Wir wohnen auf dem Lande, und das kommt, weil unser Haus in einem Dorf steht. Dörfer findet man nämlich eher auf dem Lande als in der Stadt. Unser Haus ist ein Musterhaus. Musterhäuser schaut man sich an, wenn man ein Haus kaufen möchte, das genauso aussieht wie ein Musterhaus. So, wie wenn Mama sich im Katalog erst mal Bilder anguckt, bevor sie was kauft. Nur, dass unser Musterhaus nicht im Katalog steht, sondern auf einer Wiese.
Abends bringt Papa ein Huhn statt Geld von der Arbeit mit. Mama meint, von einem Huhn kann sie nix zu essen kaufen. Papa meint, wir sollten doch das Huhn essen. Huhn essen find ich gut. Mama fragt, wer das Huhn denn schlachten soll. Huhn schlachten find ich nicht gut und fange an zu weinen. Frage, ob man das Huhn auch essen kann, ohne es zu schlachten. Nein, das ginge nicht. Papa meint, heute sei es zu spät, aber morgen will er das Huhn schlachten. Bestimmt.
3. August 1964
Papa hat keine Zeit, das Huhn zu schlachten, weil er ja einen Stall für das Huhn bauen muss. Das sei jetzt dringender. Aber er will es morgen schlachten. Bestimmt.
4. August 1964
Papa hat wieder keine Zeit. Diesmal muss er dringend weg. Zu einem Termin. Frage, ob ich mit kann, denn ich habe nochnie einen Termin gesehen. Papa meint, ich soll besser zuhause bleiben und aufpassen, dass dem Huhn nichts passiert.
5. August 1964
Mama fragt, was jetzt mit dem Huhn ist. Sie würde gerne Hühnchen machen. Papa sagt, man könnte ja statt Hühnchen die Eier essen, die es legt. Stimme zu, denn Eier esse ich auch gern, und man muss sie vor dem Essen nicht schlachten. Nur köpfen.
12. August 1964
Letzte Woche hat das Huhn kein einziges Ei gelegt. Vielleicht ist es ja verstopft. Pule mit dem Finger hinten im Huhn rum, um die Verstopfung zu lösen. Habe Erfolg. Es kommt tatsächlich ein Ei. Aber kein richtiges, sondern nur so eine Art Rührei.
16. August 1964
Unser Huhn heißt jetzt Else und legt immer noch keine richtigen Eier. Mama meint, es reicht, und Papa soll es endlich schlachten. Papa sagt, er könne kein Tier mit einem Namen schlachten.
17. August 1964
Papa hat von der Arbeit einen Kumpel für Else mitgebracht. Taufe den Kumpel direkt auf den Namen Herbert. So kann ihn niemand schlachten.
2. September 1964
Papa hat den Stall weiter ausgebaut. Wir haben jetzt zwölf
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