Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe
Autoren: Sofi Oksanen
Vom Netzwerk:
nicht ganz dringend benötigt wird – die Taschen seien auch so schon schwer genug. Nur solche Dinge, die nach dem Grenzübertritt als Valuta taugen. Für ein Kunststoffhäschen gilt das sicherlich nicht, obwohl ich es unheimlich gern habe, und es auf die Reise mitzunehmen erfordert also einige Schläue und kleine Schliche sowie unschuldige Blicke. Auf dem Rückweg nach Finnland schiebe ich mir ein imvorigen Jahrhundert gedrucktes baptistisches Gebetbuch unter das Hemd, das ich bei Großmutter auf dem Boden gefunden habe … ich muss das hinkriegen, ich muss das schaffen … Und ich lächle dasselbe Lächeln, mein sich nach innen ausbreitendes und schlaues, nach außen unschuldiges, mit dem Erwischtwerden Versteck spielendes Lächeln. Ein Kopf rollt immer, aber es darf nicht der Kopf von Anna oder von Annas Mutter sein. Das Lächeln ist dasselbe wie dann, wenn ich mich nach dem Erbrechen wieder unter die Menschen mische, nur ist es dann ein wenig matter, aber sonst dasselbe … Es tänzelt innen und sagt ätsch!

1972
    Katariina fährt mit zur alljährlichen Überprüfung der Schreibmaschinen ihrer Firma, damit der Transport nach Plan verläuft und dieselben Schreibmaschinen auch zurückkehren. Im Prüfamt wird die Anschlagspur eines jeden Typenhebels geprüft und registriert, damit die Behörden bei möglichen Straftaten – politischen oder sonstigen – wissen, wo die Schreibmaschine zu finden ist, mit der dieses oder jenes Pamphlet oder was auch immer geschrieben worden ist. Katariinas Onkel hat zwar eine Schreibmaschine aus der Vorkriegszeit, die man ihm nicht abgenommen hat, denn er tippt seine Briefe. Ansonsten aber haben Privatpersonen keine Schreibmaschinen. Wozu auch? Alles, was mit Maschine geschrieben werden muss, kann man bequem am Arbeitsplatz schreiben.
    Katariina denkt an den Finnen. Der Finne hat telegrafiert, dass er in drei Tagen aus Finnland eintrifft. Ob auch in Finnland die Schreibmaschinen alljährlich überprüft werden? Das muss sie ihn fragen.

JEDEN
SOMMER,
WENN wir längere Zeit bei Mutters Mutter verbrachten, futterte Mutter sich mehrere Kilo an. Auf Arbeits- und Dolmetscherreisen bestand dafür keine Möglichkeit, vor lauter Sprechen und Dolmetschen schaffte sie es niemals, ihren Teller leer zu essen, aber auf anderen Reisen, auf kurzen und längeren, bekleidete Mutter sich reichlich mit Essen und legte es, nach Finnland zurückgekehrt, Kilo für Kilo wieder ab, bis sie fünfzig Kilo wog so wie zuvor und so wie ich jetzt.
    Wir sind genau gleich groß, Mutter und ich, wir haben dieselbe Statur, dieselbe Kleidergröße, dieselben schmalen Schultern, dieselben Vogelhandgelenke und dieselbe Schuhgröße vierzig. Dieselbe Körbchengröße und denselben Kopfumfang. Vierzehn Jahre lang habe ich mich um die fünfzig Kilo herum bewegt, und ich kehre immer wieder dahin zurück, ich kehre dahin zurück, obwohl ich es nicht möchte, ich kehre dahin zurück, auch wenn ich mich gar nicht darum bemühe, mein Gewicht kehrt immer auf dasselbe Niveau zurück. Vor vierzehn Jahren war ich zu meiner vollen Größe herangewachsen, und Mutter und ich hätten dieselben Kleider tragen können, wenn unser Geschmack nicht so gegensätzlich gewesen wäre. Wir aßen nicht dasselbe Essen; auch wenn Mutter lernte, finnische Gerichte zu essen, hat sie mich niemals dazu gezwungen. Ich war mit dem Essen auch sonst so wählerisch, dass Mutter nach meinen Wünschen kochte. Immer schob sie mir Desserts und Schokoladentafeln zu, in Finnland deshalb, weil es sowenig davon gab, in Estland aus demselben Grund, aber auch, weil ich für den typisch finnischen Winter auf Vorrat schlemmen sollte. Den finnischen Kakao lehnte ich ab, und deshalb schickte Großmutter aus Estland Kakao und Schokoladenpralinen in einem Paket, das in braunes Packpapier gewickelt war.
    Aus finanziellen Gründen konnte Mutter mir in Finnland nicht so viel Schokolade und Runebergtorte kaufen, wie mein endlos nach Süßem verlangender Magen gefasst hätte, aber dort, wo sie es konnte, wollte sie mir alles geben. Außerdem litt Mutter nicht an chronischem Hunger nach Süßem, sondern aß lieber etwas Salziges und anderes Estnisches, das sie in ihrem Körper für Finnland einlagerte. Ich bekam alles Süße, einfach alles. Ganze Pralinenpackungen … für mich … ganze Bleche voll von diesem und jenem … für mich … kiloweise Bonbons Kekspackungen Torten Baisers für mich, ganz allein für mich; wie hätte ich da irgendein Maßhalten lernen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher