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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe
Autoren: Sofi Oksanen
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sollen?
    Ich habe wohl kein einziges Mal eine einzelne Banane oder Apfelsine gekauft. Es musste immer mindestens ein Kilo sein. Der Inhalt meines Einkaufswagens sieht auch heute aus wie der Wochenendbedarf einer Großfamilie. Oder so, als wollte ich mit meiner Familie für eine Woche ins Sommerhaus auf eine Insel fahren und niemand wollte während dieser Woche die Insel auch nur ein einziges Mal verlassen. Ich bin außerstande, eine Handvoll Salmiakpastillen zu kaufen, es muss ein Sackvoll sein. Oder gar nichts. Ich koche zwei Liter Sauerkrautsuppe für einen Tag und esse sie auch bestimmt im Verlauf des Tages auf. Ebenso Tomatensuppe. Ich kann diese zwei Liter nicht auf zwei, drei Tage verteilen und nicht einmal auf mehrere Mahlzeiten an einem Tag, sondern ich muss sie auf ein Mal aufessen. Oder ich esse gar nichts. Ich kann nicht nur Wimperntusche auftragen, ich muss mir die Augen vollständig schminken. Ich kann nicht nur eine einzige Zigarette paffen, sondern will Ketterauchen. Ich kann mich nicht mit der angemessenen Menge Parfum besprühen, sondern es muss so viel sein, dass es bis in den Hausflur zu riechen ist. Ich kann nicht einmal eine Viertelstunde telefonieren, sondern es müssen fünf Stunden oder fünf Sekunden sein.
    Ich bringe es nicht fertig, mit Fett zu knausern; der Tropfen tötet, und im Eimer ertrinkt man. Wenn man ein Fass aufmacht, dann richtig. Brot natürlich, Käse vom Fettesten, Orangenmarmelade, Haferkekse, Schokoladenkekse, Schokoladentafeln, Pizzas, karelische Piroggen, Ambrosia-Torte, eingefrorene Franzbrötchen, Mango-Melone-Eis … Den Backofen an, Kaffee in den Filter, die Butter auf den Tisch, damit sie nicht zu hart ist … Butter muss es sein, richtige, bei den Fressflashs immer nur richtige Butter … Musik an, Telefone aus, und die Orgie kann beginnen. Am liebsten beginne ich mit Eis. Ich hab schon gelernt, dass man nicht mit Brot anfangen kann, wenn man zu viele Tage nichts gegessen hat. Nach dem Fasten bekommt man das Brot nämlich nicht heraus, selbst wenn man sich die ganze Faust in den Hals steckt. Eis ist das beste Gleitmittel, es lässt den Speisebrei perfekt aus dem Magen herausflutschen, und dann ist alles nur noch ein Tanz. Außerdem eignet sich Eis auch für saubere schnelle Fressflashs – frisch erbrochenes Eis schmeckt und duftet immer noch nach demselben Eis. Ein andermal geht es nach dem Eis mit Brot und Butter weiter, ohne Getränk, weil das Trinken zusammen mit dem Brot das Erbrechen erschwert, obwohl man meinen würde, dass es genau umgekehrt ist … tralalalalala … padapampampaa … wunderbar … eins zwei drei Brot, eins zwei drei Käse … die Pizzas sind schon im Ofen bereit … also die Pizza und eins zwei drei – in den Mund und in den Mund und in den Mund und die Hefeteilchen in den Ofen …
    Wie also hätte ich jemals irgendein Maß in meinen menschlichen Beziehungen erreichen können, in meinem Verhältnis zu Hukka, in der Nähe, im Bett, anderswo. Ichkann ins Bett gehen, ohne zu lieben, und lieben, ohne ins Bett zu gehen, aber nicht lieben und ins Bett gehen. Und auch mögen kann ich nur zu sehr, daran ist nichts Aufregendes oder Romantisches, und darum wohl habe ich es gewählt, damit kein Gefühl aufkommt, damit kein einziges Gefühl die Oberfläche verletzt und damit vor allem ich selbst bestimme, ob ich jetzt sofort zwei Liter Sauerkrautsuppe esse, denn das hat nichts mit Hunger zu tun oder damit, wann ich zuletzt gegessen habe, ich weiß ja nicht einmal, wann ich Hunger habe und wann nicht. Ich bestimme, ob ich zwei Kilo Schokolade jetzt oder nie erbreche, ob ich mich mit diesem Typ jetzt oder nie heftig küsse. Aber ich weiß nicht, ob ich küssen will oder nicht, ich habe niemals einen verdorbenen Magen mit unbeherrschbarer Neigung zum Erbrechen gehabt – das ist immer meine eigene Entscheidung gewesen. Wenn ich beschließe zu küssen, dann küsse ich. Wenn ich beschließe zu essen, dann esse ich. Wenn ich beschließe zu erbrechen, dann erbreche ich.
    Bei einem Fressflash vertilge ich auch die Speisen, die auf Hukka warten. Manchmal kann die Orgie mit ihnen beginnen; wenn ich mit Hukka Streit habe, räche ich mich, indem ich die für Hukka bestimmten Speisen aufesse und sie erbreche. Hukka findet das lustig, weil es so verdreht ist, aber für mich ist nichts richtiger, nichts unvermeidlicher. Ich räche mich an Hukka auf dem Umweg über das, was Hukka das Teuerste ist, also über mich. Ganz einfach. Ich habe zum Beispiel die
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