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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe
Autoren: Sofi Oksanen
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mich also in meiner Hand ständig daran erinnern, dass ich nicht hätte bleiben sollen, als die Hand der Oma die Geldbörse suchte? Oma bildet sich ein, mir zu helfen, da mein Konto ja nun leer ist. Dass ich jetzt alles Notwendige, Kaffee und Zigaretten, Seife und Shampoo, solche Grundnahrungsmittel wie Brot und Butter kaufen kann, die bei anderen tagelang halten, bei mir aber nur eine Stunde.
    Ich schenke der Oma ein Lächeln, nicke, als säße ich in einer schwingenden Schaukel, um loszukommen, um gehen zu können. Hinaus aus der Tür dort, langsam, gleichsam unbekümmert, entspannt, hinter der Ecke kann ich schon laufen, ich kann noch wer weiß was tun. Aber die Oma spricht immer weiter und wechselt nur langsam die Stellung der Füße. Der Fußboden quietscht. Ich spiele die Ruhige und Interessierte. Trinke noch eine Tasse Kaffee. Wie schaffe ich es nur, mich zu beherrschen? Ich stelle fest, dass ein unterdrücktes Schlucken ein wirksames Mittel ist, sich auf etwas anderes als die Uhr und den Aufbruch und den die Tasche erhitzenden Geldschein und dessen beruhigende Glätte zu konzentrieren. Endlich knarrt Omas Stuhl auf eine Weise, dass ich weiß, gleich wird sie aufstehen.
    Ich habe eine halbe Stunde Zeit.
    Ich bemühe mich, auf dem Weg zum Supermarkt nicht zu rennen. Die Absätze allerdings machen Zeitlupenbewegungen wie in Stummfilmen, kreischen manchmal auf, wenn sie über die Pflastersteine von Helsinki schrappen.Das gleiche Geräusch erzeugten Mutters Absätze auf dem Kopfsteinpflaster der Altstadt, nicht in der typisch finnischen Kleinstadt meiner Kindheit, wo es außerhalb des Zentrums keine gepflasterten Wege gab … Wir hatten es eilig, in Tallinn hatten wir es immer eilig, denn die Zeit war begrenzt, und das Erledigen auch der kleinsten Sache erforderte Ewigkeiten, deren Dauer man unmöglich voraussehen konnte, und deshalb mussten wir uns fast im Laufschritt bewegen, aber nicht zu auffällig, wir mussten ebenso rennen wie ich jetzt und die Umgebung im Auge behalten, um zu sehen, ob uns jemand folgte. Sah der Mann dort nicht genauso aus wie derjenige, der in der Kaufhausschlange hinter uns stand? Oder hat der Mann vielleicht nur einen ebensolchen Mantel?, fragte Mutter, und ich war mir der Sache nicht sicher. Das ständige Beobachten war entnervend und aufregend. Mutter fürchtete sich. Ich konnte das noch nicht.
    Das war dort normal. Das ist hier normal. Mein normaler Tag. Ebenso wie damals in Tallinn achte ich jetzt darauf, dass mir keine Bekannten entgegenkommen, die meine Einkaufstour behindern könnten, dass im Laden niemand zu sehen ist, mit dem ich sichere Lebensmittel einkaufen würde und der wüsste, dass sich in meinen Einkaufswagen niemals solche Waren verirren würden. Oder jemand, der erst vor zwei Tagen gesehen hatte, wie ich für meinen Einpersonenhaushalt schon wieder mit krummem Rücken Eier in Familienpackungen und Eispakete schleppte. Gott sei Dank gehört zu meinen Orgienspeisen heute auch anderes als Süßes, und das fällt weniger auf als ein Korb voller Kekse, Schokolade und Puddings. Beinahe wäre ich gestolpert, aber ich mache nur ein paar Hüpfschritte auf einem Bein, ebenso wie Mutter dort irgendwann damals … Gegen Ende des Jahrzehnts, der Siebzigerjahre, hörte sie auch in Tallinn auf, mit hohen Absätzen durch die Stadt zu gehen. Eine finnische Frau war als Ausländerin und Finnin in Schuhen mit flachen Absätzen glaubhafter. Zu Turnschuhen gingMutter jedoch nicht über, vielleicht dachte sie, sie könnte alten Bekannten aus ihrer Studienzeit begegnen. Die Radieschencreme der Gesellschaft schenkte den Finnen aus dem Norden keine Beachtung. Die Radieschencreme, die äußerlich die allerrötesten der roten Parteimitglieder waren! Und innerlich die weißesten Patrioten. Die hatte Mutter verraten, indem sie einen Finnen heiratete. Das war wahrhaftig zu verurteilen, auch wenn Mutter zu den wenigen ihres Studienjahrs gehörte, die sich weigerten, in die Partei einzutreten, und die nicht mitsangen: Es lebe, vom Willen der Völker gegründet, die ein’ge und mächtige Sowjetunion! Der Verachtung, die Mutter seitens der Radieschencreme zu spüren bekam, wollte sie jedoch durch ein so finnisches Attribut wie Turnschuhe nicht noch mehr Nahrung geben. Trugen doch die Finnen auf den Tallinn-Schiffen immer Turnschuhe, die weiß vor Neuheit, aber angeblich ihre eigenen und für den eigenen Gebrauch bestimmt waren – davon mussten die Zöllner überzeugt werden. Mit Turnschuhen an den
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