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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe
Autoren: Sofi Oksanen
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werden, dass ich aussehe wie ein Hamster.
    Aber A. Hukka nennt mich Katze. Kleine Katze.
    In den Büchern heißt es, ich würde mich nach dem Erbrechen unattraktiv und deprimiert fühlen.
    Ich aber fühle mich wunderbar beflügelt und vollkommen.
    In den Büchern heißt es, der Schmelz meiner Zähne würde zerstört.
    Sie aber strahlen makellos in meinem Mund, schmerzen vielleicht, das Zahnfleisch hat sich vielleicht ein wenig zurückgezogen, aber sonst gibt es nichts daran auszusetzen.
    Sie sagen, wegen ihrer schadhaften Schneidezähne vermeiden Bulimiker es zu lächeln.
    Quatsch.
    Dass ich nicht lache.
    Vierzehn Jahre, und ich bin immer noch hier.
    Was sagt ihr Kurpfuscher dazu, die ihr angeblich so gut Bescheid wisst?
    Was sagen Sie dazu, werte Frau Doktor Joan Gomez, Sie behaupten ja, eine Bulimikerin könne kein Make-up tragen, weil das zu schrecklich aussehen würde. Was sagen Sie, Frau Doktor Gomez, wenn Sie sich mein Gesicht ansehen?
    Und meine Haare, Joan Gomez, was sagen Sie zu meinen Haaren? Ich sollte doch ein kahlköpfiges KZ – Mädchen mit undefinierbaren Ausscheidungen und stinkendem Atemsein, zwischen dessen todesgekrümmten Hüftknochen kein Leben mehr entspringt, und auch das Herz pumpt kein Blut, sondern Kalorien. Wie direkt aus Workuta! Ich müsste ein Bild abgeben, wie die Künstler es vor ihrem Tod von sich selbst malen, verschwommene Gesichtszüge, tief in den Höhlen liegende Augen, Schädelknochen, die durch die Kopfhaut schimmern. Mein Mund müsste dieselben Worte sprechen, die die Schriftsteller in ihren letzten Tagen schreiben, meine Hand müsste eine ebenso verschwommene und schließlich auf ein so winziges Format zusammengeschnurrte Schrift produzieren, dass sie fast nur noch eine gerade Linie bildet, wie eine Herzkurve nach dem Herzstillstand. War es nicht so, Peggy Claude-Pierre, war es nicht so, dass eine kaum zu entziffernde Winzigkeit typisch für die Handschrift von Anorektikern ist? Was? So sollte es also sein?
    Na, dann sagen Sie mir doch mal, warum ich so strahlend und rosig aussehe? Warum mein Bauch flach und nicht geschwollen ist, warum er still ist und keine solchen unerfreulichen und peinlichen Geräusche erzeugt, vor denen Sie warnen? Warum werde ich immer zum Tanzen aufgefordert, warum können meine Liebhaber einfach nicht die Finger von mir lassen – stinken meine Küsse denn nicht so nach Erbrochenem, dass es sie in die Flucht schlägt? Wie ist es möglich, dass ich bei den Aufnahmeprüfungen die besten Noten bekomme, obwohl ich während der schriftlichen Prüfung zwischendurch auf die Damentoilette gehe und mich um mich selbst kümmere, indem ich den mitgebrachten Kopenhagener wieder erbreche? Was ist ein kleiner Schwindel, ein trockener Mund im Vergleich zu all dem? Warum sollte ich also auf meinen wunderbaren Geliebten, meinen Schöpfer und Herrn verzichten?

1972
    Katariina kann 1680 finnische Wörter.
    Der Finne lobt Katariinas Finnischkenntnisse.

AUF
OMAS
KOPF kraust eine flechtenartige, schlechte Dauerwelle, die schwammig gewordene Wange ist dem in die weiße Kälte zeigenden Dreifachfenster zugewandt, und es ist, als ließe das Fenster Omas Wange frieren. Sie wirkt weit schafporlinghafter als die dem Zimmer zugewandte Wange. Meine weißen Mädchenwangen müssten schon von derselben grauen Rasse sein, da mein Herr vorzeitiges Altern verursacht, wie hieß das doch gleich? Ach ja, Hypogonadismus. Deshalb müssten Oma und ich gleich aussehen, denn verwandt sind wir nicht miteinander. Diese Oma mag mich einfach so, sie wohnt immer noch in demselben mehrstöckigen Haus wie wir früher und ist mir seit jener Zeit bekannt. Die Oma, die mit mir verwandt ist, kann kein Verhältnis zu einer Person aufbauen, die von einer Ausländerin abstammt, wie auch sonst niemand aus der typisch finnischen Familie. Meine kleine, tapfere baltische Mutter war tatsächlich die erste Ausländerin, der die Mutter meines Vaters begegnete. Allerdings hatte sie Kontakt zu Kareliern gehabt, als die nach Finnland kamen, und deshalb begann bei ihr jeder zweite Satz damit, wie die Karelier dies und wie die Karelier jenes machten. Wenn Mutter sich einen Kaffee nahm, sagte Oma, auch die Karelier hätten Kaffee getrunken. Wenn Mutter Essen kochte, sagte Oma, auch das Essen der Karelier habe eigentümlich geschmeckt. Wenn Mutter sich schneuzte, sagte Oma, das hätten auch die Karelier getan. Es dauerte allerdings mehrere Jahre, ehe Mutter begriff, warum im Zusammenhang mit ihrem Tun und Lassen immer
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