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Nocturne City 03 - Todeshunger

Titel: Nocturne City 03 - Todeshunger
Autoren: Caitlin Kittredge
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    Dem Mann auf dem Gebäudevorsprung war nicht mehr zu helfen. Noch balancierte er zwar vorsichtig auf dem schmalen Sims im achten Stockwerk, als läge ihm etwas an seinem Leben, aber seine Entscheidung schien er bereits getroffen zu haben. Wenn man oft genug mit Leuten zu tun hat, die unentwegt »Ich springe!« und »Ich tus wirklich!« brüllen, erkennt man die, die sich tatsächlich in die Tiefe stürzen, irgendwann automatisch. Die meisten meinen es nicht ernst. Zu meinem Pech gehörte der Mann da oben nicht zu dieser Gruppe.
    »Alles klar, Wilder?«, erkundigte sich Fitzpatrick. Ich klappte das Visier meines Helms hoch und tat, als steckte ich mir den Finger in den Hals.
    »Selbst bei den miesesten Tränendrüsen-Talkshows kriege ich nicht so sehr das Kotzen wie beim Gestammel dieses Vermittlers.« Der Vermittler war Lieutenant Brady vom Raubdezernat, der gerade versuchte, den Mann vom Springen abzuhalten. Allerdings wirkte er mit der Situation maßlos überfordert. Er brüllte fortwährend abgedroschene Floskeln in das Mikrofon der Lautsprecheranlage auf dem Einsatzfahrzeug:
    »Denken Sie noch mal darüber nach, Sir. Ich bin sicher, auch für Sie gibt es etwas, wofür es sich zu leben lohnt.«
    »Verdammt, um acht beginnt der Elternabend in der Schule meines Kleinen«, murmelte Fitzpatrick. »Können wir den Quatsch nicht langsam hinter uns bringen?«
    Ich blickte wieder durch das Zielfernrohr meines M4-Sturmgewehrs und nahm das Gesicht des Mannes ins Fadenkreuz.
    Er wirkte immer noch entschlossen und hatte seine Position nicht verändert. Mittlerweile war ein Polizeischeinwerfer auf ihn gerichtet, was ihn sichtlich nervös machte, denn er scharrte unentwegt mit den Sohlen seiner Turnschuhe auf dem bröckeligen Granitsims hin und her. Das Wohngebäude, von dem er sich stürzen wollte, lag dem Garden-Hill-Friedhof direkt gegenüber, und die ganze Szenerie war in das unwirkliche, fast grelle Licht eines beinahe vollen Mondes getaucht.
    Der Mann hatte ein kantiges Gesicht, einen eckigen Oberkörper und kurz geschnittenes schwarzes Haar. Abgesehen von der Tatsache, dass gerade die Besatzungen eines Krankenwagens und eines Löschfahrzeugs sowie meine SWAT-Einheit TAC-3 darauf warteten, dass er seinem Leben mit einem Sprung aus knapp dreißig Metern Höhe ein Ende setzte, gab es nichts Besonderes an ihm.
    »Kommen Sie herunter, dann können wir zusammen Ihre Probleme angehen!«, hallte das Echo von Bradys Stimme zu uns herüber.
    »Der kommt nicht runter, zumindest nicht über die Treppe«, flüsterte ich und visierte dabei weiter das Gesicht des Mannes durch die Zieloptik an.
    »Sag nicht so was! Ich habe nämlich keine Lust, nachher den Dreck vom Gehweg zu fegen«, brummte Fitzpatrick. »Wenn dieser Spinner nicht wäre, hätten wir schon seit einer Stunde Feierabend, verdammt!« Fitzpatrick war ein notorischer Griesgram – die Sorte Mann, die sich sogar bei einem Empfang in der Playboy Mansion über die Temperatur des kostenlosen Champagners beklagt –, und meistens fand ich seine Nörgeleien sogar amüsant. Diesmal allerdings ging er mir gehörig auf die Nerven. Verärgert stieß ich ihn in die Seite seiner Schutzweste.
    »Fitzy, jetzt halt endlich die Klappe! Der arme Kerl ist auch ohne dein Gequatsche schon schlimm genug dran.«
    »Der springt sowieso nicht«, brummte Fitzpatrick zurück. »Solche Typen springen nie. Die wollen nur eine gottverdammte Viertelstunde unserer Aufmerksamkeit.«
    Mit gelassenem Gesichtsausdruck ließ der Mann seinen Blick von den rot-weiß blinkenden Lichtern der Streifenwagen zum Scheinwerfer des Feuerwehrfahrzeugs und anschließend zu Lieutenant Brady wandern, der sich hinter seinem Dienstwagen verkrochen hatte. Er weinte nicht und sah auch nicht sonderlich wütend aus. Lediglich sein Kinn verzog sich etwas, weil er in seiner Anspannung die Zähne aufeinanderpresste.
    »Da wäre ich mir nicht so sicher …«, flüsterte ich.
    »Sie haben doch noch Ihr ganzes Leben vor sich!«, brüllte Brady ins Mikrofon. »Da draußen wartet eine wunderschöne Welt auf Sie!«
    Der Mann sah nun direkt zu mir herüber – zumindest kam es mir durch das Zielfernrohr so vor. Dann hob er zögerlich eine Hand zu einem schwachen Winken. Als ich begriff, dass er sich gerade verabschiedete, erstarrte ich. Dann sprang er.
    Für die Dauer des Falls – die wenigen Augenblicke, in denen sein Körper wie ein kleiner schwarzer Punkt vor der weißen Granitfassade des Gebäudes in die Tiefe stürzte –
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