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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe
Autoren: Sofi Oksanen
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immer hätten diese Bekannten noch etwas mehr verlangt. Außerdem war es vollkommen unnötig, dass auch nur eine einzige Person unseren genauen Aufenthaltsort kannte. Am sichersten und einfachsten war es also, ein Taxi zu nehmen und dem Fahrer ein ordentliches Trinkgeld zu geben, das heißt, das Doppelte des Fahrpreises. Dann half er, Taschen und Tüten auszuladen und auf dem Hof der Großmutter zu einem Stapel aufzuschichten, und versprach, uns am vereinbarten Tag wieder zurück nach Tallinn zu bringen, und er forderte Mutter auf, auch später in jeder beliebigen Angelegenheit einfach Kontakt zu ihm aufzunehmen. Die Begeisterung über diesen Westkontakt war seiner Miene anzusehen.
    Das war Annas ureigene Welt.
    Annas Welt ist die, in der Annas Mutter glücklich ist.
    An den Orten der Glückseligkeit tragen alle Frauen Röcke. Deshalb vertauscht Anna die Hosen gegen Rock oder Kleid, sobald sie aus der Schule nach Hause kommt. Weil sie sich im Rock wohler fühlt. In den Achtzigerjahren tragen die finnischen Frauen keine Röcke, auch nicht die Mädchen in der Schule, und deshalb muss Anna sich auch in Finnland als Finnin verkleiden, sich einfügen, indem sie Jeans anzieht, obwohl sie es in Wirklichkeit nicht möchte. Einmal zieht Anna ihr Hauskleid an, als sie in den Kindergarten geht, und die Tante fragt sofort, ob Anna Geburtstag habe, weil sie so hübsch angezogen sei.
    Auch an den Orten der Glückseligkeit soll Anna in der Öffentlichkeit Hosen tragen, aber aus einem anderen Grund, nämlich um sich zu unterscheiden, um als Ausländerin zu gelten. Ein Kleid ist nur dann angebracht, wenn es in genügendem Maße wie Importware aussieht. So etwas ist der Jeansrock. Aber zu kurz und zu schmal darf er nicht sein, weil die einheimischen Mädchen diese Modelle bevorzugen. Und ein solches Modell würde Anna lieber tragen, es ist so unglaublich schön, aber in der Öffentlichkeit ist das erst fünfzehn Jahre später möglich, als die estnischen Teenie-Mädchen zu ebensolchen Hüfthosen mit Stretch übergegangen sind wie ihre Altersgenossinnen in Helsinki und der Ort der Glückseligkeit, Annas ureigene Welt, nur noch in der Erinnerung besteht.
    Das ist nicht fair. Dass man öffentlich nirgendwo einen Rock tragen darf, obwohl Anna sich darin wohlfühlt. Das gefällt ihr überhaupt nicht.
    Auch die Mutter verzichtet in Finnland auf Röcke, nachdem sie bemerkt hat, wie die Kinder ihre Röcke anstarrten und die Mütter ihren Kindern erklären mussten, was es mit so einem seltsamen Stück Stoff auf sich habe. Auch an den Orten der Glückseligkeit kann die Mutter nicht öffentlich einen Rock tragen, weil auch sie wie eine Ausländerin aussehen muss.
    Einen Rock trägt man dort, wo man sich gut und leicht fühlt, wo man am allerliebsten ist … Wo es Kopfsteinpflaster, Sonne und Gelächter gibt trotz des Fluchens und der Schlangen. Reifende Kirschen und Fliederwälder. Verfallende Gutshöfe und Windmühlen, Schilfdächer mit Moos darauf, verbeulte Aluminiumtöpfe auf Pfannenuntersetzern, die nach Wacholder duften, und vom Wetter grau gegerbte Milchbühnen am Ende von Eschenalleen.
    Mutter, Mutter, lass uns zurückgehen.

1976
    Katariina gibt zu, dass sie Weihnachten in der Kirche war. Die Stille, die von diesem Satz erzeugt wird, ist angefüllt mit Blicken, alle auf sie gerichtet. Wie kann sie es wagen. Wie kann sie es auch nur wollen. Heute ist der erste Weihnachtstag, und bei der Arbeit geht es vielleicht etwas leichtfüßiger zu, aber sonst ist es genauso wie an anderen Arbeitstagen. Jemand hat die Idee, dass Katariina nur einen Witz erzählt hat, und fängt an zu lachen, und alle stimmen schnell ein, um den ersten Lacher einzuholen, um nicht dümmer zu wirken und um sicherzugehen, dass die anderen wissen, wie komisch und prachtvoll sie Katariinas Witz finden.
    Der Finne ist zu Weihnachten nach Finnland gefahren. Auch Katariina wäre gern zu ihren Eltern gefahren, kann es aber nicht, weil sie sowohl am Heiligabend, am ersten und auch am zweiten Weihnachtstag arbeiten muss, und Busse und Züge fahren nicht so häufig, dass sie es nach Tallinn zurück schaffen würde. Wie soll man Weihnachten feiern, wenn man genauso wie an gewöhnlichen Tagen am Arbeitsplatz und in der Schule sein muss? Und so sind die Weihnachtstage denn auch gewöhnliche Tage. An die Stelle der alten Feiertage sind neue getreten, an ganz anderen Tagen und aus völlig anderen Gründen. Katariina möchte ihr Weihnachten zurückhaben. Katariina möchte ein Recht
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