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Eiszart

Eiszart

Titel: Eiszart
Autoren: Kerstin Dirks
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Alle taten, als hätten sie schon einmal von Graf Zima gehört.
    »Er ist ein ehrenwerter Mann! Eine gute Partie.«
    »Du solltest dich geehrt fühlen, dass er dich zum Ball eingeladen hat.«
    »Wie er wohl auf dich gekommen ist? Du bist doch nichts Besseres als wir. Nur ein einfaches Mädchen aus einfachem Haus.«
    Das stimmte. Niemand nahm sonst von ihr Notiz. Niemand hatte ihr je geschrieben, geschweige denn sie eingeladen. Veruschka blickte in die Runde. Onkel und Tante sowie ihre drei Cousinen hatten an dem alten Holztisch Platz genommen. Das Feuer knisterte im Kamin. Die Flammen flackerten im immer selben Rhythmus. Es war ein Abend wie jeder andere. Nur lag an diesem Abend das Schreiben des Grafen auf ihrem Tisch. Mit Siegel und Unterschrift! Keiner in der Familie konnte flüssig lesen, niemand außer Veruschka, die es sich selbst beigebracht hatte.
    »Wir sind nur Bauern, wir müssen nicht lesen können. Das ist doch alles Firlefanz«, hatte der Onkel immer gesagt. »Wichtiger ist es, etwas im Magen zu haben. Von Buchstaben wird niemand satt.«
    An diesem Abend aber schien sich ihre Einstellung geändert zu haben. Alle waren neugierig und aufgeregt. Veruschka hatte den Brief gleich zwei Mal vorlesen müssen.
    »Ein Mann von Adel! Das will was heißen!«
    »Du Glückliche, ich beneide dich.«
    »Bald wirst du teure Gewänder tragen, nicht mehr diese alten Lumpen.«
    Veruschka hörte ihren Verwandten nicht länger zu, die unentwegt Wodka in sich hineinschütteten und bereits von einer Hochzeit träumten, die es niemals geben würde. Denn sie war diesem ominösen Grafen nie begegnet. Niemand in dieser Gegend kannte seinen Namen, auch wenn ihre Verwandten etwas anderes behaupteten. Wahrscheinlich war das Schreiben eine Fälschung, der Mann, der es aufgesetzt hatte, ein Betrüger. Vermutlich ahnte die Familie das sogar, und wollte Veruschka lediglich loswerden. Schließlich lebte die junge Frau seit ihrem dritten Lebensjahr bei Onkel und Tante. Und in dieser Zeit hatte Veruschka oft das Gefühl verspürt, nicht willkommen zu sein. Sie stellte eine Belastung dar. Ein weiteres Kind bedeutete ein weiteres Maul, das gestopft werden wollte. Ihre Familie war immer arm gewesen.
    »Wenn du ihn heiratest, kannst du uns endlich alles zurückzahlen.«
    Veruschka schob ihren Stuhl zurück und ging zur Tür. Sie konnte dieses Gerede nicht länger ertragen, und sie würde auch gewiss nicht der Einladung des Grafen folgen. Bälle interessierten sie nicht im Geringsten. Noch weniger wollte sie sich an einen Fremden verkaufen lassen.
    »Bist du verrückt, draußen tobt ein Schneesturm!«, rief ihr die Tante nach, aber Veruschka kümmerte das wenig. Sie fürchtete die Kälte nicht.
    »Dieser Winter ist der härteste seit Jahren. Verdammter Winter«, hörte sie noch den Onkel durch die längst geschlossene Tür schimpfen, dann zog sie ihren Schal fest um den Hals und ging ein paar Schritte über den Hof, der ganz und gar von weißem Flies bedeckt war. Der Schnee glitzerte wie ein Meer aus Diamantenstaub im Licht des Mondes. In sanften Schwaden rieselten Eiskristalle auf die Erde. Sie sahen aus wie winzige Edelsteine. Einfach wunderschön.
    Veruschka verstand nicht, was alle gegen den Winter hatten. Für sie war es die schönste Jahreszeit. Sie liebte den Anblick der strahlend weißen Welt. Auf jedem Zweig lag eine weiße Mütze, und am Dach reihten sich die Eiszapfen wie Orgelpfeifen. Sie nahm eine Handvoll Schnee und formte daraus einen Ball. Früher hatten die Cousinen und sie Schneemänner gebaut, aus Kohlestücken und Rüben ein Gesicht geformt. Mittlerweile waren die Mädchen zu jungen Frauen herangereift, die im besten heiratsfähigen Alter waren. Und natürlich hofften Onkel und Tante darauf, dass eine jede von ihnen eine gute Partie machte. Deswegen war Graf Zima auch von besonderem Interesse für ihre Zieheltern, sie hofften wohl, der Glanz des Adels würde auch auf sie übergehen, wenn sich Veruschka mit ihm vermählte. Sie schüttelte den Kopf. Der feine Schnee, der sich in ihre dichten braunen Haare gesetzt hatte, die sie stets zu einem Knoten gebunden trug, rieselte wie Sternenstaub zu Boden.

Es ist nur eine Einladung zum Ball. Niemand sagt, dass er ein Interesse an mir hat, er kennt mich ja nicht einmal. Und was noch wichtiger war, Veruschka wollte gar nicht heiraten. Zumindest jetzt noch nicht. Sie wollte warten. Auf den einen. Schon als kleines Mädchen hatte sie davon geträumt, einen Mann zu heiraten, den sie von
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