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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche
Autoren: Fritz J. Raddatz
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selbsterrichteten Kunstwelt, eine Hohn- und Ekelmeile legend zwischen sich und das, was für sie alles dasselbe ist; Waschmittelwerbung oder Kanzlerinterview. Wer je erlebt hat, mit welch gleichgültiger Selbstverständlichkeit oder feixender Verachtung der Fernseher abgedreht wird in einer Runde dieser jungen Leute, der weiß, wie recht Nobert Klugmann mit dem erwähnten Artikel in der «Frankfurter Rundschau» hat:
    Richtig ist: Von hier droht kein Bombenwurf; Entführungen werden nicht geplant, Molotow-Cocktails nicht gebastelt. Aber: Von hier wird dem Staat und seinen Repräsentanten in unheimlich schweigender Manier der Prozeß gemacht, wird ihm seine Berechtigung abgesprochen, weiterhin in unerträglich penetranter Weise das alles umfassende Gemeinwohl für sich zu reklamieren. Der Zug ist schon abgefahren: Es gibt heute einen Staat im Staat. Einen anarchistischen, völlig gewaltlosen, unverbundenen Zusammenhang in Großstädten, schwächer bis sehr schwach in der Provinz (aber das wird noch werden), der praktisch nicht mehr angreifbar (= unansprechbar) ist. Dieser Staat begeht keine Rechtsbrüche (ich hüte mich, die wenigen idyllischen zu nennen), er nimmt auch kaum Rauschgifte zu sich, und wenn, dann des Staates Lieblingsgift Alkohol. Dieser Staat im Staat wird nie eine Organisation haben, eine Führung schon gar nicht. Womit auch die vordergründige – zugegeben naheliegende – Assoziation vom Staat im Staat als einem funktionierenden, irgendeinem gewohnten Zweck nutzbar zu machenden Ratio-Gegenstand ad absurdum geführt wäre. Der Ausdruck
Staat im Staat
soll lediglich ein (Aus-)Maß an Abschottung ausdrücken.
    Sie sehen sich als eine Generation «Gewähr bei Fuß». Eine Million von ihnen wurde als Bewerber für den öffentlichen Dienst überprüft; 285  Periodika, für die sie sich interessieren – vom «Argument» über das «Kursbuch» bis zur «Sozialistischen Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft» –, wurden auf Schnüffellisten des Verfassungsschutzes festgehalten; 239 ihrer Bünde und Organisationen ebenso – von «Amnesty International» bis zum «Werkkreis Literatur der Arbeitswelt». Nach der Schleyer-Entführung – keine deutsche Zeitung, lediglich die «New York Times» nannte ihn «a once hated SS -man» – wurde jeder von ihnen – jeder zwischen 20 und 30  –, der nach Frankreich fuhr, überwacht; selbst Mitglieder der Jungen Union. Gewiß das am besten geeignete Mittel, Trauer und Abscheu angesichts eines Ermordeten zu erzeugen. Die gräßliche Schnippischkeit des Berliner Witzes «Andreas und Gudrun heiraten – einen Schleyer haben sie schon» ist das dünnste Resultat. Die Einführung des Wortes «Berufsverbot» ins Umgangsenglisch
und
-französisch ein anderes. Selbst die nicht direkt linkslastige «Financial Times» schreibt: «Westdeutschland leidet an einem leichten Anfall von Autoritarismus.»
    Die Liste der Vergehen, derer man diesen Staat anzuklagen hat, wäre lang – von der untersagten Carl-von-Ossietzky-Namensgebung für eine deutsche Universität (gleichsam ein zweites Todesurteil für den pazifistischen Schriftsteller) bis zum entlassenen linken Armeekoch, eine Farce, die selbst Conrad Ahlers fragen läßt: «Hat er zu oft rote Bete serviert?» Nur gefriert einem das Witzeln; wer von kritischen Geistern als von «Ratten und Schmeißfliegen» spricht – Ungeziefer, das man gemeinhin mit Gas ausrottet –, der ist nicht mehr zu bespötteln. Darunter liegt eine deutsche Sehnsucht nach Katastrophe und Untergang, die ihn mit derselben Intensität herbeibeschwört, wie sie Demokratie als das normale Miteinander von Gegensätzen nicht versteht, also zugrunde verteidigt.
    Vakuum des historischen Bewußtseins ist immer auch Vakuum der Moral. Das ist beweisbar bis ins winzigste Detail von Redeweisen: Wer von «Zusammenbruch» spricht, ist das Ende der Hitler-Herrschaft gemeint, der bedauert etwas. Zusammenbruch ist nichts Herbeigewünschtes, gar selber Herbeigeführtes. Zusammenbruch ist erlittene Naturkatastrophe.
    Heute liest sich das so: «Bald ist es soweit! Die Neue Partei wird gegründet. Sie soll NSPD , Nationalsozialistische Partei Deutschlands, heißen. Noch werden echte Mitbegründer mit Nationalstolz gesucht!» Das ist kein Witz. Das steht, zwischen der Einladung der Kant-Gesellschaft und «scharfen Attraktionen hübscher Girls», am 18 . Januar 1978 als Annonce in der «Mainzer Allgemeinen Zeitung». (Die Partei wurde am 28 . Januar 1978 in
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