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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche
Autoren: Fritz J. Raddatz
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fragt mit unkokett entblößter Brust nach seinem eigenen Versagen, als Bürger der DDR in den fünfziger Jahren nicht mehr Mut bewiesen zu haben. Aber all den Texten gemeinsam ist die unangefochtene Autorität, die die Namen der Schriftsteller von Brecht bis Grass, von Sartre bis Susan Sontag als zentrale Referenzgrößen der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung ausstrahlen.
    Raddatz pflegt mit der Literatur einen Umgang wie mit alten Freunden, die man in- und auswendig kennt, auf die man stolz, aber auch eifersüchtig ist, mit denen einen viele gemeinsame Abenteuer verbinden, von denen man manches Geheimnis kennt und viele Briefe aufbewahrt hat. Ob die Autoren noch leben oder schon tot sind, ändert dabei nichts an ihrer intellektuellen wie emotionalen Zeitgenossenschaft. Sie sind Familie. Und so, wie Raddatz über sie schreibt, sind sie nicht nur für ihn Familie, sondern für alle, die im Wirbel der Geschichte und der Geschichten suchende und irrende Menschen sind. In ihren Macken und Mickrigkeiten, in ihren Idealen und Größenphantasien erkennen wir unsere eigenen Impulse wieder. Wir sind opportunistisch wie Johannes R. Becher, wir sind romantische Alkoholiker wie William Faulkner, egoistische Frauenausbeuter wie Brecht, schwule Verbrecher (zumindest in unseren erhabenen Träumen) wie Genet und große Selbstbetrüger wie am Ende fast alle von Sartre bis Hermlin. Sämtliche Modelle des sittlichen wie des unsittlichen, des kleinen wie des großen Lebens kommen für Raddatz fast naturgemäß aus der Literatur. Deshalb gibt es in seinen Texten nie den Tonfall der Gleichgültigkeit oder Indifferenz, aber auch nicht den der Angst vor Desinteresse oder mangelnder Relevanz.
    Diese Selbstverständlichkeit macht mich staunen. Um sie beneide ich ihn. Vermutlich wird er mein Staunen nicht verstehen. Als er einst Feuilletonchef der ZEIT war, sprach man andächtig vom «Raddatz-Feuilleton». Ich glaube, im Kern muss damit ein völliges Fehlen kleinmütiger Selbstmarginalisierung gemeint gewesen sein; die Überzeugungskraft, ohne Anfechtungen an die Allgemeingültigkeit des Fixstern-Universums zu glauben. Wie realistisch oder unrealistisch das ist, ist nicht kampfentscheidend. Im Zweifel besteht Größe gerade in der feurigen Ignoranz aller realistischen Relativierungen.
    Und es stimmt: Wenn man auf die Haltbarkeit von Namen schaut, schneiden die Dichter und Denker
in the long run
weitaus besser ab als die Global Player und Strippenzieher der Macht und wer sonst noch auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten um Aufmerksamkeit ringt. «Name und Werk von Schiller oder Picasso oder Grass sind vorhanden», schreibt Raddatz. «Wie hießen die Richter von Oscar Wilde? Wer hat Victor Hugo ins Exil getrieben, und wer nennt die Namen derer, die Thomas Mann nicht – keine Silbe, kein Wort – aus der Emigration heimriefen? Der Atem der Geschichte hat ihre Namen gelöscht wie der Wind Spuren im Sand.» Und einmal warmgelaufen, ruft Raddatz aus: «Ich plädiere für ein Aufkündigen der Bescheidenheit.» Konkret wehrt sich Raddatz in diesem Text gegen die kleinmütigen Realpolitiker, die als «Hiwis der Macht» vor der Wiedervereinigung warnen, weil diese das Mächtegleichgewicht des Kalten Kriegs durcheinanderbringen könnte. Tatsächlich aber atmen seine Sätze eine Grundsätzlichkeit, mit der der Feuilletonist allen konkurrierenden Weltmächten ins Stammbuch schreibt, wo
sub specie aeternitatis
der Hammer des Ruhms hängt.
    Die sechziger und siebziger Jahre, in denen Raddatz zu großer Form auflief, mögen links und bilderstürmerisch gewesen sein, sie waren aber gerade dort, wo sie sich an bildungsbürgerlichen Werten abarbeiteten, eben auch noch dies: bildungsbürgerlich, schriftgläubig. Mit jedem Klassiker, den man vom Sockel riß, wurde von Walter Benjamin bis Herbert Marcuse ein neuer Säulenheiliger inauguriert. Das war die ideale Bühne für Fritz J. Raddatz’ Doppelnatur: rebellisch und kultiviert, extravagant und gebildet, kulinarisch und intellektuell, mondän und ein Bücherwurm, Sylt und Ostberlin.
    Und doch erklären die Zeitumstände allein nicht die Behauptungskraft, von der seine Texte getragen werden. Ich glaube, sie kommt daher, daß es sich nur auf den ersten Blick um Literaturkritiken oder Feuilletondebattenbeiträge handelt, im innersten Kern aber um Liebesgeständnisse. Daher die Kraft, der tollkühne Übermut, daher die Hitze des Gefechts wie die Anhänglichkeit der Erinnerung. Da liebt einer und will selber
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