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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche
Autoren: Fritz J. Raddatz
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Gemeinsamkeiten forschen. Durchaus im Sinne jenes heiklen Essays von Thomas Mann.
    Seltsam doch: Erst wenn einer der schießenden Desperados in Haft war, erfuhr man von einer Mutter, einem Bruder, einer Geliebten, einem Freund. Nie vorher. Identifizierung muß nicht immer den Fingerabdruck meinen, sondern das Forschen nach Gemeinsamem; nur daraus kann die wahre Absage kommen, das trauervoll schneidende Nein, überzeugender als alle Deklamationen.
Sympathein
heißt nämlich nicht in erster Linie «innerlich billigen», heißt in seiner Grundbedeutung erst einmal «mitfühlen». Also das Gegenteil jener Peinlichkeit auf halbmast wehender Mercedes-Fahnen. Automobilfabriken sollten bilanzieren, nicht flaggen, halbmast schon gar nicht. Eine Firma kann nicht trauern. Aber ein Mensch. Emphase, Teilnahme, Urteil: Das ist nur möglich, wenn Erbarmungslosigkeit sich nicht in der Aburteilung eines einzelnen erschöpft, sondern zum Beurteilen einer Gesellschaft führt. Die Frage bleibt letztlich: Ist die Gesellschaft schuld?
    Es ist die entscheidende Frage. Sie muß beantwortet werden. Der Terrorist, der den Bankier Ponto erschoß, ist so gut Produkt dieser Gesellschaft wie der Bankier Ponto. Auch Fehlentwicklungen sind Entwicklungen. So töricht es ist, jedes legasthenische Kind als «Versagen der Gesellschaft» vorzuführen, so ohne Moral und Verantwortung ist es, ihr ersichtliches Versagen hinwegzumogeln.
    80 000 drogenabhängige Jugendliche. 82 000 Jugendliche ohne Arbeitsplatz. 300 000 Jugendliche zwischen 14 und 29  Jahren alkoholgefährdet. Die höchste Rate an Kinderselbstmorden in Westeuropa ( 500 jährlich). Die höchste Rate an stellungslosen Akademikern in Europa (etwa 40 000 ), 40  Prozent der Studenten in psychiatrischer Behandlung. Die niedrigste Rate von studierenden Arbeiterkindern in Europa ( 13  Prozent) – und das alles soll keine Folgen haben? Und das alles, dieser Rostfraß unter dem Lack der Produktgesellschaft, soll nicht Ursache sein? Jeder neunte Jugendliche in der Bundesrepublik lehnt das bestehende Gesellschaftssystem ab, und einer, der es wissen muß, der Ex-Terrorist Hans-Joachim Klein, dokumentiert: «Ich weiß von Siebzehn- und Achtzehnjährigen, die würden heute am liebsten ein Inserat in der FAZ aufgeben, um eine Knarre zu kriegen und in den Terror einzusteigen.»
    Die sich da zu Tode fixen ( 84 allein im Jahr 1977 in Berlin); die sich da zu Tode trinken; die da schließlich andere totschießen – mit denen haben wir alle nichts zu tun? Unterwelt, Abschaum, Ratten? Auch wenn es unsere Söhne und Töchter sind, die die saturierten Vorstadthäuschen verlassen haben, ins Nirgendwohin?
    Hier ist zweierlei zu sagen. Wer diese Gebärde der Wegwerfgesellschaft zur Verfügung hat,
der
handelt unmoralisch. Menschen sind keine Einwegflaschen. Dem liegt eine verborgene Erbarmungslosigkeit zugrunde.
    Es liegt aber noch etwas anderes zugrunde, das vielleicht Schlimmere, kaum mehr verborgen: die gänzliche Unfähigkeit, analytisch zu denken, simpelste kausale Abfolgen zu erkennen. Das betrifft auch – oder gerade – die, bei denen ständige winzige Verletzungen des Menschlichen eines Tages das Unmenschliche hervorrufen. Wo die Titelzeile «Kennedy erschossen» garniert ist mit «Kein Schälen, kein Schneiden, keine Tränen! – Thomys Röst-Zwiebeln»; wo das Foto vom Mord an einem Vietcong garniert wird mit sekttrinkender Fürstenhochzeit und BMW -Reklame; wo das Wort «Dichtkunst» in ganzseitigen Anzeigen nur noch im Zusammenhang sanitärer Abdichtungen und das Wort «revolutionär» für Schrankwände verwendet wird; wo Mannequin-Passagiere der «Landshut» eine Woche nach Mogadischu ihre läppischen «Erinnerungen» pfennigweise verkaufen – da
muß
doch, leise, langsam, unmerkbar erst, eine Verbiegung von Wahrnehmungen, ein Zerklirren von Werten stattfinden. Wie mühelos ließe sich eine Anthologie der ekelhaftesten «Gedankenlosigkeiten» zusammenstellen, Bilder verhungerter Kinder neben Kaviarreklame und Aufnahmen der Vergifteten von Seveso neben Chemiewerbung. In Wahrheit gibt es, bei wachen Aufnahmeapparaturen, keinen Tag ohne Schock. Schock heißt Angst. Angst heißt Haß.
    Unserer bürgerlichen Welt begegnet eine ganze Generation in dieser Schock-Angst-Haß-Mischung. «Diese Menschen leben nur noch körperlich anwesend», hieß es kürzlich in einem höchst eindrucksvollen Aufsatz. Sie leben in einem anderen Staat – wenn wir Glück haben: abgekapselt von der Wirklichkeit in einer
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