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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche
Autoren: Fritz J. Raddatz
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verstehen, daß eine Waffe, die Neutronenbombe heißt, eine Atombombe sei, die keine Atombombe ist.
    Ich will diese sechste Waffe nicht, gar keine.
    Haben wir denn vergessen, was hinter uns liegt? Die Leiber, das Elend, die Mütter ohne Fassung und die Frauen ohne Männer? Haben wir das alles aufgespult und weggelegt wie den Ferienfilm aus Mallorca oder die Beatles-Kassette? Riecht denn das niemand mehr – diese von heißem Eisen bittere Luft, diesen süßlichen Gestank, hervorquellend aus Schutt und Mörtel und Asche? Hört das niemand mehr – das Schreien der Zwanzigjährigen ohne Beine, das Wimmern der Frauen mit dem erfrorenen Kind auf dem Arm? Sieht das denn niemand mehr – den Arm ohne den Menschen dran unter den Trümmern von Dresden, den Elendstreck von Millionen quer durch Europa? Sind denn unsere Tiefkühltruhen für das Gedächtnis unserer Seelen gebaut, und ist das Wort Klarsicht reserviert für die Verpackung von Hühnerbrüsten?
    Ich weiß – man wird sagen: emotional, irrational, irreal; unsere Politiker können ja so gut Latein. Und wenn eben noch das Wort Sympathisant – kommt es nicht von mit
leiden?
 – das Schimpfwort der Saison war, dann ist es jetzt der Pazifist. Diese Denunziation hat für mich dieselbe Überzeugungskraft, mit der vor allem jene Leute zum Gürtel-enger-Schnallen aufrufen, um deren wohlbeleibt-pensionsberechtigte Bäuche nun aber auch gar kein Gürtel mehr paßt. Warum sollen wir eigentlich den Herren mit den prall gefüllten Hosenträgern glauben? Die «Kohlenklau»-Rufer saßen auch immer schön warm.
    Die Verweigerung gegen ein «Vernunft»-Argument ist nicht zwangsläufig vernunftlos; es gibt auch eine Kraft des Nicht-Vernünftigen. Man stelle sich vor, wie viel Leid unserem Jahrhundert erspart, wie viel Millionen Menschen am Leben geblieben wären durch eine einzige winzige Tat: wenn alle Mütter und Frauen ihre Söhne und Männer einfach nicht hätten ziehen lassen. Unsere Welt sähe anders aus.
    «Das geht nicht» – ich höre es schon. Aber wer sagt das? Die, die uns jetzt Europa mit neuen Höllenmaschinen vollstellen wollen, ein Kontinent als Raketen-U-Boot vor Anker? Wieso müssen wir deren Logik glauben, denen, für die dies hier zu «persönlich» gesprochen ist, weil man ja nur noch MIRV und SALT und MX und SS - 20 stottern darf?
    Die härtere Abwehr heißt dann meist: «Das ist Literatur.» Das haben sie einst auch zu Jean-Jacques Rousseau gesagt – doch seine utopischen, so «unrealistischen» Worte, und nicht die von Generälen oder Bürokraten, prägten der Welt damals freiheitlichste Verfassung: die der jungen Vereinigten Staaten von Amerika. Das hätten sie wohl auch zu einem gesagt, der vor fast zweitausend Jahren geboren wurde – «das läuft nicht» – und an den sie sich erinnern einmal im Jahr mit einem Glitzern im Auge und kleinen Päckchen in der Hand. An diesem einen Abend schweigen ja auch die Waffen – eine Obszönität wie das Wort von der humanen Bombe?
    Sich oder andere daran zu erinnern, ist nicht aufgeschminkte Frömmigkeit noch Mißbrauch tief eingesetzter Werte; weit über die Bergpredigt hinaus. Insofern ist es kein Zufall, daß ein deutscher Dichter, dem wir die schönsten Antikriegsgedichte dieses Jahrhunderts verdanken, seine Tradition in dieser «Literatur» sah. Auf die Frage, welches für ihn das wichtigste Buch der Welt sei, antwortete Bertolt Brecht: «Die Bibel».
    DIE ZEIT , 42 / 9 .  10 .  1981

Bruder Baader?
    Redlich wünsche ich diesem öffentlichen Vorkommnis einen Untergang in Schanden … Der Bursche ist eine Katastrophe; das ist kein Grund, ihn als Charakter und Schicksal nicht interessant zu finden.
    THOMAS MANN , «Bruder Hitler»
    Hier soll nicht soziologischer Kaffeesatz gelesen, nicht zu Schalmeienklang rechtsherum getanzt werden, nicht «Archipel Buback» auf Fähnchen gestickt, die im linken Wind flattern; sondern von Menschen wird gesprochen. Bisher hat niemand versucht – niemand gewagt? –, an Gemeinsamkeiten zu erinnern mit einem von denen, die «über den Fluß gegangen» sind. Eine Nation hat den Kopf in den Sand gesteckt, hat sich nicht erinnern wollen – weder an die eigene Geschichte noch an die Personen.
    Ein Doppelsalto, der schließlich mit gebrochenem Rückgrat und Paralyse endet; denn sich erinnern, das ist eine moralische Kategorie. Damit eine politische. Und sei es nur im Hinzeigen, wie selten die beiden Begriffe zusammengehen. Sich erinnern, das heißt nach
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