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Nette Nachbarn

Nette Nachbarn

Titel: Nette Nachbarn
Autoren: Marcia Muller
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ERSTES
KAPITEL
     
    San Franciscos Tenderloin ist ein
Distrikt, der aus zwanzig Blöcken besteht und in dem sich einige der größten
Gegensätze der Stadt befinden. Einem davon sah ich mich gegenüber, als ich an
einem sonnigen Dezembermorgen aus meinem geparkten Wagen stieg: Da stand ein
Straßenprediger in ausgebeulter Hose, mit Mütze auf dem Kopf und Schildern vor
dem Bauch und auf dem Rücken vor dem Eingang zum Sensuous Showcase Theatre. Den
Fußweg kamen Schulkinder, zehn oder zwölf, herauf, die einer alten, langsam
dahinhumpelnden Rentnerin Platz machten, als sie zum Bus rannten. Die Frau
konzentrierte sich völlig auf den Abfall in der Gosse und schaute nicht einmal
auf, als die Kinder sich kreischend und rufend um sie drängten. Ich sah ihnen
zu, wie sie in den Bus kletterten, schob dann meine Schlüssel in meine Tasche
und schickte mich an, die Eddy Street entlang zu gehen.
    Komisch, dachte ich, wie sehr sich
dieser Teil der Stadt verändert hat, ohne daß ich es wirklich bemerkt hätte.
Als ich das letzte Mal einen Fall hier unten bearbeitet hatte — mehr als drei
Jahre war das jetzt her — , hatte ich nicht viele Kinder auf den Straßen
gesehen. Das Tenderloin war einmal die Zuflucht der Armen, der geistig oder
körperlich Behinderten und der Lasterhaften gewesen; Eltern hatten es ihren
Kindern nicht erlaubt, unbeaufsichtigt dort herumzulaufen. Aber dann war der
enorme Zustrom der Flüchtlinge aus Südostasien gekommen, Menschen mit wenig
Geld und vielen Träumen. Und langsam hatte sich der Charakter des Viertels
geändert.
    Jetzt waren viele der Schaufenster fein
herausgeputzt, und man sah Produkte und Lebensmittel aus dem Orient. Winzige
Restaurants hatten Namen wie Saigon-Palast und Vientiane West. Schäbige Hotels wurden
freundlicher durch Blumen auf den Fensterbänken und renovierte Fassaden. Und
überall sah man Kinder — in Kinderwagen wurden sie herumgeschoben, spielten auf
den Bürgersteigen, rannten in den Geschäften ein und aus. Es stimmte schon, es
gab immer noch Zuhälter hier, Prostituierte, Drogensüchtige und Pornohändler.
Aber zwischen ihnen und den Neuankömmlingen war eine Art Waffenstillstand
geschlossen worden, der es allen erlaubte, in einer Art prickelndem Frieden zu
leben. Die Stadt war sogar so weit gegangen, einen Spielplatz nicht weit von
hier, in der Jones Street, zu bauen.
    Mein Ziel war das Globe Apartment
Hotel, ein schmales Gebäude aus dunklen Ziegeln, das ich auf halbem Weg den
Block herunter entdeckte. Es war sechs Stockwerke hoch, mit Erkerfenstern, die
auf beiden Seiten einer zentralen Feuerleiter hervorstanden. Jemand hatte die
Eisengeländer mit grünen, mitgenommenen Girlanden und roten
Weihnachtsornamenten geschmückt, die den größten Teil ihres Glanzes verloren
hatten. Ich zog ein Stück Papier aus der Tasche und überprüfte noch einmal die
Adresse. Dann betrat ich die Halle.
    Früher einmal mußte es sich um ein
richtiges Hotel gehandelt haben, denn zu meiner Rechten gab es eine Rezeption
mit Schlüsselfächern dahinter. Die Fächer waren jetzt leer, die Rezeption
verwaist, wenngleich der Bewohner in seinem Anfall von Weihnachtsstimmung auch
hier gewütet hatte: Ein Plastikbaum, übertrieben grün und drei Fuß hoch, stand
auf dem Tresen; er war mit denselben abgegriffenen Ornamenten geschmückt wie
die Feuerleiter. Ein paar bunt verpackte Päckchen lagen auf einem weißen
Leintuch darunter.
    Es erschien mir ein großes Risiko, in
der allgemein zugänglichen Halle eines Hauses im Tenderloin Weihnachtsgeschenke
liegen zu lassen. Ich ging hinüber und hob eines von ihnen auf. Es war leicht,
und als ich es schüttelte, hörte ich nichts. Als ich es gerade wieder hinlegen
wollte, öffnete sich die Eingangstür. Schuldbewußt zuckte ich zusammen und
drehte mich um.
    Die Frau, die dort stand, war groß,
fast einsachtzig, und wog bestimmt ungefähr zweihundert Pfund. Ein sackartiges
Kleid, rot und weiß gestreift, fiel in bauschigen Falten von dem Vorsprung
ihres enormen Busens, und in ihrem ungekämmten grauen Haar steckte ein
Sträußchen aus roten Nelken und Stechpalmenzweigen. Das, so schloß ich, mußte
wohl »Mutter Weihnacht« sein.
    »Da ist nichts drin«, erklärte sie mir.
    Hastig legte ich das Päckchen zurück,
strich dann das Tuch glatt. »Das dachte ich mir schon, aber ich war neugierig.
Ich mußte es einfach überprüfen.«
    »Und wenn was drin gewesen wäre? Was
dann?«
    »Dann hätte ich es zurückgelegt.«
    »So?« Sie verschränkte die Arme
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