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Nette Nachbarn

Nette Nachbarn

Titel: Nette Nachbarn
Autoren: Marcia Muller
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und sah
mich streng an.
    Ich war daran gewöhnt, für vieles
gehalten zu werden, aber niemals für eine Diebin, die so weit gesunken war, daß
sie jemandem die Weihnachtsgeschenke stehlen würde. »Hören Sie«, sagte ich.
»Ich war einfach neugierig.«
    »Das sind alle.« Sie schloß die Tür und
kam auf mich zu, schien die winzige Halle auszufüllen. »Wenn ich schon mal da
bin — kann ich Ihnen helfen?«
    »Äh, ja.« Für gewöhnlich lasse ich mich
nicht so leicht einschüchtern, aber dieses ganze Fett schien Autorität zu
verströmen. Ich fummelte in meiner Tasche herum und förderte schließlich das
Papier zutage, das ich schon früher zu Rate gezogen hatte. »Ich bin gekommen,
um mit Mrs. Lan zu sprechen. Das Refugee Assistance Center schickt mich.«
    Sie ignorierte meinen Zettel. »Sie
meinen Mrs. Vang.«
    »Verzeihung?«
    »Der Nachname ist Vang. Sie haben nur
den Vornamen gelesen.«
    »Oh.« Wieder betrachtete ich das
Papier. In der kühnen Handschrift meines Chefs stand da »Mrs. Vang Lan.«
    »Für die Bewohner des Westens klingen
die vietnamesischen Namen alle gleich«, sagte die Frau. »Die machen sich nicht
die Mühe, es richtig zu lernen.«
    Ich hatte das Gefühl, mich verteidigen
zu müssen — es war schließlich nicht einmal mein Fehler, und so sagte
ich: »Nun, ich nehme an, unsere Namen klingen für die auch alle gleich.«
    »Wahrscheinlich.« Sie schenkte mir ein
breites Grinsen, das ihre Zahnlücken enthüllte, um mir zu zeigen, daß sie mir
nicht wirklich feindlich gesinnt war. »Sie müssen die Detektivin von der
Rechtshilfe sein. Lan hat erzählt, im Center hätte man ihr gesagt, sie würden
jemanden vorbeischicken.«
    Wahrscheinlich hatte sie schon die
ganze Zeit erraten, wer ich war. »Richtig. Sharon McCone.«
    »Sallie Hyde.« Sie streckte eine große
Hand aus, die die meine vollkommen umschloß. »Ich lebe den Vangs gegenüber.
Kommen Sie, ich bringe sie rauf.« Sie zwängte sich an mir vorbei und watschelte
auf den Aufzug am Ende der Halle zu.
    Zusammen füllten wir den kleinen Käfig
voll aus. Sallie Hyde warf das Eisengitter zu, drückte auf den Knopf für den
vierten Stock, und der Fahrstuhl summte nach oben. Ich warf einen besorgten
Blick auf das Zertifikat, das über den Knöpfen hing, um festzustellen, wann die
letzte Inspektion durchgeführt worden war.
    »Keine Angst, der fällt nicht runter«,
lachte meine Begleiterin. »Es ist auch schon Tage her, daß er zwischen zwei
Stockwerken steckengeblieben ist.«
    Ich lächelte schwach und beobachtete,
wie die Knöpfe aufleuchteten — zwei, dann drei, dann vier. Dort kam der Käfig
so abrupt zum Halten, daß er mehrmals auf und ab hüpfte.
    »Wenigstens hat er gute Bremsen«,
bemerkte ich.
    »Funktioniert besser als irgend etwas
sonst hier im Haus.« Sallie Hyde zerrte an dem Eisengitter, drückte den Hebel
der schweren Außentür nieder und schob mich auf einen schmalen, dunklen Gang
hinaus.
    Ich war schon in anderen
Tenderloin-Hotels gewesen; dieses hier war anders. Alle Glühbirnen brannten,
die abgenutzten grünen Linoleum-Fliesen auf dem Boden sahen sauber aus, und die
helleren, grünen Wände schienen erst kürzlich gestrichen worden zu sein. Unter
allem lag der übliche säuerlich-scharfe Geruch von Desinfektionsmitteln, aber
die ihn überlagernden Düfte waren nicht typisch: Knoblauch, Fisch und etwas
Würziges wie scharfe rote Peperoni. Ich folgte Sallies rot-weißem Kleid nach
rechts. Am Ende des Ganges leuchtete ein rotes ›Notausgang‹-Schild. Sie klopfte
an eine Tür auf halbem Wege zwischen dem Schild und dem Fahrstuhl.
    Die Frau, die uns begrüßte, war ungefähr
einsfünfzig groß und trug ein formloses, geblümtes Baumwollkleid und
Gummischuhe an den Füßen. Ihr Gesicht war rund und dick, und ihr kurzes
schwarzes Haar trug sie in der Mitte gescheitelt und hatte es dann hinter die
Ohren gekämmt. Sie schaute von mir zu Sallie Hyde, dann über die Schulter nach
hinten in die Wohnung.
    »Hallo, Lan«, sagte Sallie. »Das ist
Sharon McCone, die Dame von der Rechtshilfe.«
    Lan Vang lächelte und bedeutete uns,
einzutreten. Ich trat zuerst vor und wurde von einem Meer von Gesichtern
empfangen. In dem kleinen Zimmer befanden sich ungefähr zehn Personen, deren
Alter variierte — von Mrs. Vang, die ungefähr vierzig Jahre alt sein mußte, bis
hin zu einem Baby, das auf dem Boden herumkrabbelte. Sie starrten mich
erwartungsvoll an, und dann stand einer von ihnen auf.
    »Danke, daß du gekommen bist, Sharon.«
Es war
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