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Nette Nachbarn

Nette Nachbarn

Titel: Nette Nachbarn
Autoren: Marcia Muller
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Carolyn Bui, eine Eurasierin — halb Vietnamesin, halb Amerikanerin — ,
die ich kennengelernt hatte, als ich im vergangenen Frühjahr an einem Fall
gearbeitet hatte. Kurz darauf war sie zur Direktorin des Refugee Assistance
Center ernannt worden, einer gemeinnützigen Organisation, die den Flüchtlingen
aus Südostasien dabei half, sich in ihrer neuen Umgebung einzuleben. Einerseits
aufgrund ihrer Verbindung zu mir, andererseits, weil All Souls gemeinnützigen
Gruppen so günstige Tarife einräumte, hatte sie die rechtliche Arbeit des
Centers der Detektei übertragen, bei der ich als Detektivin angestellt war.
    »Es ist schön, dich wiederzusehen«,
sagte ich und ergriff ihre Hand.
    Carolyn warf einen Blick zur Tür, in
der noch immer Sallie Hyde stand. Die dicke Frau musterte die Versammlung und
stellte offensichtlich fest, daß es keine Möglichkeit für sie gab, sich noch
irgendwo hineinzuquetschen, da der Raum bereits zum Bersten voll war. Ehe Carolyn
etwas sagen konnte, wandte sich Sallie an mich. »Wenn Sie irgendwas brauchen,
ich bin gleich gegenüber. Ist mein freier Tag heute, da bin ich daheim.« Damit
drehte sie sich um und polterte davon. Lan Vang schloß die Tür, und ich spürte
sofort ein in mir aufsteigendes Gefühl von Klaustrophobie.
    Ich wandte mich wieder Carolyn zu. Sie
sagte: »Wie ich sehe, hast du Miss Hyde bereits kennengelernt.«
    »Ja. Sie ist... ziemlich
eindrucksvoll.«
    »Eine nette Frau. Sie arbeitet in einem
Blumenstand am Union Square, und wenn sie das nicht gerade tut, dann spielt sie
für jeden hier im Haus die Ersatzmutter.«
    Während sie das sagte, musterte ich
Carolyns zartes, ovales Gesicht, das von weichen Locken umrahmt wurde, die ihr
bis auf die Schultern fielen. Sie hatte im vergangenen Jahr eine harte Zeit
durchgemacht, und als ich sie das letztemal gesehen hatte, war sie zu dünn
gewesen und hatte erschöpft gewirkt. Aber jetzt hatte sie wieder zugenommen,
und in ihren Augen lag ein Leuchten. Das Leben mußte für sie wieder schöner
geworden sein, dachte ich und freute mich darüber.
    »Wenn wir schon von den Bewohnern
dieses Hauses sprechen, sind sie alle hier im Zimmer versammelt?« fragte ich.
    Sie lachte und sagte auf vietnamesisch
etwas zu Mrs. Vang, die nun auch lachte. »Kaum. Du siehst vor dir die Familie
Vang, außer Mr. Vang, der bei der Arbeit ist.«
    »Was! Sie leben doch nicht alle...« Ich
machte eine umfassende Handbewegung. Das Zimmer — sauber, aber spärlich
möbliert — war kaum größer als dreieinhalb auf vier Meter. Auf dem Sofa, auf
dem Carolyn gesessen hatte, saßen jetzt noch drei junge Frauen, und die übrigen
Familienmitglieder hockten auf seinen Armlehnen oder saßen auf dem Boden.
    »Es ist eine Drei-Zimmer-Wohnung«,
erklärte Carolyn. »Und sie kommen schon zurecht.«
    Hastig zählte ich. Acht Personen,
einschließlich des Babys, dazu der abwesende Mr. Vang, das machte dann neun.
Plötzlich erschien mir mein kleines Fünf-Zimmer-Häuschen, das nach dem Erdbeben
als Zuflucht errichtet worden war, wie ein Palast.
    Carolyn beobachtete mich. »In Saigon«,
erzählte sie, »wohnten die Vangs in einem großen Haus. Mr. Vang gehörte eine
Lebensmittelgroßhandlung, und die Kinder besuchten Privatschulen. Die Familie
floh in den letzten Stunden der Republik aus ihrer Heimat, und dabei haben sie
alles verloren. Jetzt fangen sie noch einmal von vorne an.«
    Ich warf einen Blick auf Lan Vang und
die anderen. Sie hörten aufmerksam zu. »Was macht Mr. Vang nun?«
    »Der Familie gehört ein kleines
Café in der Taylor Street — Lan’s Garden. Alle, die dazu in der Lage sind,
arbeiten dort; die Kinder besuchen außerdem die Schule oder das College. Alle
leisten ihren Beitrag, und sie hoffen, daß sie eines Tages ein Haus im Sunset
District besitzen werden.«
    Der Ton von Carolyns Stimme und ihre
sorgfältig ausgewählten Worte verrieten mir weit mehr als nur die äußeren
Umstände der Familie Vang. Sie bedeuteten: Dies sind wertvolle Menschen, und
sie betteln nicht um Mitleid oder milde Gaben. Sie haben einmal eine Menge
besessen , und das werden sie wieder tun.
    Ich schämte mich meiner ursprünglichen,
überheblich-mitleidigen Reaktion und der Tatsache, daß Carolyn und ich uns über
die Vangs unterhielten, als wären sie nicht da, und so sagte ich: »Es wäre
nett, wenn du mich allen vorstellen würdest.«
    Sie nickte und wandte sich an Mrs.
Vang. »Lan Vang hast du bereits kennengelernt. In der Abwesenheit ihres Mannes
ist sie das
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