Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche
Autoren: Fritz J. Raddatz
Vom Netzwerk:
kosmopolitisch und wissen: Der Martini im Rainbow Room des Rockefeller-Center ist der beste, die Kacheln an dieser einen Pforte von Fez die schönsten, und wer in Harry’s Bar in Venedig oben statt unten zum Essen plaziert wird, muss sich erschießen.» Er kann das so locker schreiben, weil er keinen Anlaß hat, sich erschießen zu müssen. Schmallippige Protestanten ohne Festkultur kennt der deutsche Kulturbetrieb genug. In diesem Umfeld war Raddatz’ verspielter Snobismus schon fast so etwas wie sexuelle Befreiung: «Das Hübsche girrt auf den Laufstegen dieser Welt, schwankender Boden der Leichtfertigkeit.» O ja!
    Doch ist seine Lust an der Weltlichkeit immer überschattet von einer Melancholie, die den Kern seiner kulturellen Existenz ausmacht: die niederschmetternde Erkenntnis, daß es die falsche Welt ist, weil die wahre Welt nach 1933 ins Exil vertrieben wurde und nie wieder heimkehrte. Kein Motiv wird man darum in diesen Texten so häufig finden wie Raddatz’ Wut über ein Deutschland, das kein Gespür für seine Verluste hatte und den Emigranten keinen roten Teppich ausbreitete, der sie zur Heimkehr hätte bewegen können. Das ist Raddatz’ größter Liebesverlust. Was bleibt, ist Lion Feuchtwangers Haus in Kalifornien, ein Museum jener Welt von gestern, in der sich Fritz J. Raddatz, wäre sie nicht 1933 zu Ende gegangen, ganz gewiß wie ein Fisch im Wasser bewegt hätte.
    Ijoma Mangold

[zur Inhaltsübersicht]
Kaltnadelradierungen
    Warum ich Pazifist bin
    Die erste Waffe war ein russisches Bajonett mit eingesägten Scharten, sie hatte ihm den einen Lungenflügel zerrissen; sie lag mit den vom nie gereinigten Metall aufgesogenen Blutflecken in einem bestimmten Fach des Schreibtischs, zusammen mit anderen Kriegserinnerungen («den Iwan habe ich mit meiner Pistole erledigt»), und wurde dem Sohn – man nannte das wohl preußische Erziehung – bei besonderen Anlässen gezeigt; Mitternacht hatte ich ihm noch den blutigen Schaum von den Lippen gewischt, morgens um fünf war er tot, und ich band mit einem Küchentuch den heruntergeklappten Kiefer hoch: mein Vater. Da war ich dreizehn.
    Die zweite Waffe war eine ertrunkene Panzerfaust. Am Morgen zuvor hatte ich mit einem blauen Emailleeimer Wasser aus dem Feuerlöschteich im Park geholt, um den die kleinen Bürgerhäuser der Siedlung gruppiert waren; in dem ausbetonierten Teich schwammen, mittendrin wie ein sinnloser Quirl, die Panzerfaust, die aufgedunsenen Leichen zweier deutscher Soldaten, die hatten das Gymnasium schräg gegenüber verteidigt, in dem ich nichts gelernt hatte. Mit dem Teichwasser wurde Gerstensaft gekocht. Und die Suppe aus einem Stück Pferd, daran noch das braune, lockige Fell haftete – es war gerade fertig mit dem Sterben, als wir es mit dem Taschenmesser zerfetzten.
    Die dritte Waffe war eigentlich die erste, Angst hatte sie aus der Erinnerung verdrängt: Phosphor. Der hatte den mittäglichen Frühlingshimmel über Berlins Innenstadt erst schwarz gemacht in kurzen Minuten; dann, in langen Stunden, brannte die Stadt in so rasendem Feuer, daß der Asphalt schmolz. Ich steckte – mitten auf der Friedrichstraße – in einem saugenden Moor, konnte mich nicht retten vor den Flammen rechts und links, die gegeneinanderschossen in einem von sich selber entfachten Kaminzug. Niemand hörte mein Schreien – oder doch? Eine fremde Frau hatte über meinen Kopf mit versengten Haaren, Brauen, Wimpern eine nasse Decke geworfen. Da war ich elf – und das erste Mal betrunken in meinem Leben.
    Die vierte Waffe hatte ich im Mund, jene Ewigkeit lang, die es dauert, bis drei Rotarmisten fünf Frauen vergewaltigt haben; einer hielt mir den Lauf seiner Pistole in den Hals, damit ich schön still hielt beim Zusehen. Da war ich immer noch dreizehn, und einen Sexualkundeunterricht brauchte ich nun nicht mehr.
    Die fünfte Waffe stand im Garten unseres zerbombten Hauses; mit ihr feuerten unter trunkenem «Gitläh-kaputt»-Gegröle Sowjetsoldaten vierundzwanzig Stunden ohne Unterlaß ins Zentrum, auf die Reichskanzlei – wo sich der Verbrecher gerade trauen ließ. Das entsetzliche, jaulende Geräusch machte mir solches Grauen, daß ich mich unter den Koksberg im Keller verkroch. Diese Waffe hieß «Stalinorgel» – es waren die ersten Raketengeschosse – und die Logik, daß sie ja nicht mich treffen konnten, half meiner Angst nicht.
    Wie mir heute, ziemlich viel älter und vielleicht ein bißchen weniger dumm, auch die Logik nicht hilft zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher