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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche
Autoren: Fritz J. Raddatz
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sie Panik vor Unordnung, die ihrem Leben den Sinn nähme; denn Gesetz und Ordnung, wie sie sie begreifen, ist ihre Sinngebung. Sie haben das große Falsche in ihrem Leben einmal «bewältigt» – also nicht, weil sie nicht einmal die Wortwurzel «Gewalt» in diesem Vorgang entdeckten. Noch einmal wollen sie nicht unrecht haben, und wenn man wieder «bewältigt», damit dem Recht zu seinem Recht verholfen wird. Die jüngste deutsche Geschichte war ja ein Unfall, nicht etwa interpretierbare, erklärbare, schuldhafte Entwicklung. Gegen Unfälle hilft eine Lebensversicherung. Man vergißt, daß dies eines der probaten bürgerlichen Zudeckworte ist – die sichert ja nicht das Leben, sondern wird ausgezahlt nach dem Tode. So wird die Police zur Polizei. Sie gilt nun als die große Lebensversicherung, und der übermächtige Glaube an sie macht aus einem zu überwachenden Staat einen Überwachungsstaat. Geschichtliche Prozesse so kartographieren zu wollen, gleicht dem Weltverständnis der ersten Geographie-Mönche des Mittelalters. Wie jene schreiben nun diese über die ihnen unzugänglichen, unerforschlichen Gebiete:
Hic sunt leones.
    DIE ZEIT , 42 / 13 .  10 .  1978

Ist Gott Antisemit?
    Der Papst war also in Auschwitz. Benedikt  XVI . – vormals Kardinal Joseph Ratzinger – trug dort ein Gebet vor, das sich eher wie eine Rede liest. Keine gute.
    Schon die im Ganzen drei Mal wiederholte Formulierung, er sei «ein Sohn des deutschen Volkes», schmeckt nach Festzeltansprache. Wie das? Ist er nicht Sohn eines Vaters und einer Mutter? Wie geht das, «Sohn» eines «Volkes» zu sein? Bereits mit dieser Intonierung beginnt die Schwammigkeit – Zuweisung zu schwer definierbaren, möglichst anonymen Gemeinschaften; war er dann auch der Sohn von Mördern und Verbrechern, von Tätern? Genau die Antwort auf diese Frage aber delegiert der Papst: bereits zu Beginn seiner Ansprache, die irgendeine diffus benannte Clique haftbar macht, erteilt er eine Reinwaschung, die keinem politisch-historischen Forschungsergebnis und keiner moralischen Prüfung standhält; da heißt es: «Ich stehe hier als Sohn des deutschen Volkes … als Sohn des Volkes, über das eine Schar von Verbrechern mit lügnerischen Versprechungen, mit der Verheißung der Größe, des Wiedererstehens der Ehre der Nation und ihrer Bedeutung, mit der Verheißung des Wohlergehens und auch mit Terror und Einschüchterung Macht gewonnen hatte, so daß unser Volk zum Instrument ihrer Wut des Zerstörens und des Herrschens gebraucht und mißbraucht werden könnte.»
    Das ist nicht wahr. Das ist pure Geschichtsklitterung. Da exekutierte nicht nur eine «Schar» – im Sprachgebrauch also eine kleine Gruppe. Es waren vielmehr willfährige Millionen, darunter unzählige Christen, die den Gewaltapparat bedienten, allein in und für die Metzelmaschine Auschwitz viele Vieltausende – die Waggons der Reichsbahn beluden sich ja nicht von selbst, sie hielten an Bahnhöfen vor Zeugen und Mittätern, die Weichen wurden nicht automatisch gestellt, und kein Zug mit den vor Angst halb Irren, mit den verdreckten halb Verhungerten ward von allein entladen. Die Geschichtsforschung gibt längst Auskunft über die riesige Heerschar der Mittäter, von den sich prügelnden Nachbarn; ging es um das geraubte Hab und Gut, das vor aller Augen und in jedermanns Hände versteigert wurde, über die grausigen Mordkommandos von Hitlers Armee, ja: bis zu den applaudierenden und denunzierenden katholischen Würdenträgern: slowakische, kroatische, polnische – aber auch deutsche und französische.
    Die Mitschuld der christlichen Kirchen ist inzwischen einwandfrei nachgewiesen und dokumentiert, und Daniel Goldhagen hat mit seiner (prompt gescholtenen) Intervention vollkommen recht, wenn er anmahnt: «Ausführlich rätselte Benedikt, wo Gott damals gewesen sei. Die Frage eines Kirchenmannes. Auffällig dagegen sein Versagen, danach zu fragen, wo denn
die Kirche
damals war. Benedikts Verweis auf die Rätselhaftigkeit von Gottes Wegen verschleierte so noch die meistdiskutierten Aspekte des Verhaltens von Kirche und Papst während des Holocaust: Warum sie ihre Stimme nicht erhoben. Warum sie nicht mehr taten, um den Juden zu helfen. Mit solchen Ausflüchten und Verdrehungen kommt ein moralischer Führer seiner moralischen Verantwortung nicht nach, von der moralischen Verpflichtung der Kirche zu Reue und Wiedergutmachung ganz zu schweigen.»
    Die Worte des Papstes waren nicht nobel noch
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