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Stahlstiche

Stahlstiche

Titel: Stahlstiche
Autoren: Fritz J. Raddatz
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tun: die Hand aufhalten.
    Viele profitieren doch wohl davon, ob nun dieser abgehalfterte Blondlockenkopf, der den Mißbrauchten seine Haribo-Süßigkeiten in den Mund quasselt – oder Vatern und Muttern, die ohne Anstand ihr Kind verscherbeln. Sie wollen alle eine neue Waschmaschine oder einen Flachbildfernsehapparat: Folglich schicken sie die Winzlinge auf den Werbe-Strich; und kassieren. Es gibt ja inzwischen seriöse Untersuchungen darüber, wie Kinder schon sehr früh in einer mit Marken vollgestopften Welt leben, wie die Unternehmen vor allem die Eltern benutzen, um das Verhalten der künftigen Konsumenten zu prägen. Da fängt man halt so früh es geht an; wer so putzig-patschig nach den Spaghetti patscht oder Vati noch rasch vom Gartentor zuwinkt, braust der mit dem neuen Wagen los: der ist schon gewonnen für die Warenwelt. Wenn neuerdings ein «Kinderfrühwarnsystem» eingerichtet werden soll, um Unheil, Verwahrlosung und Gewalt abzuwenden – dann sollte vorher erst einmal ein «Elternfrühwarnsystem» installiert werden für jene, die ihre Kleinen auf dem Markt schamlos verkaufen; die Patschhändchen sind an der Lockschnur von Grapschhänden.
    Allenthalben wird über die «Verwahrlosung der öffentlichen Verantwortung» geklagt, daß «Vater Staat» seine Kinder im Stich lasse. Aber was einmal aus diesen zu Possierlichkeitsmaschinchen gedrillten Kleinen werden soll – das fragt sich offenbar niemand. Man darf sich das einmal vorstellen, wie es in so einem Atelier des jeweiligen Werbefotografen zugeht – sehen die Eltern eigentlich dabei zu? –, wie die Kinder, «und nun noch einmal lächeln», kujoniert werden, «leck doch noch mal an dem Eis» oder «Du mußt tüchtig mit dem Löffel um den Mund herumschmieren»: diese Kommando-Hübschheit, worüber bereits laufstegmüde Models klagen; Filmschauspieler ohnehin, die 32 mal denselben Take drehen müssen. Doch das sind halbwegs erwachsene Menschen, so hält sich unser Mitleid in Grenzen.
    Hier aber werden noch ganz kleine Seelen zermanscht in einer Profitmaschinerie – sie können ja Wirklichkeit und Gaukelei noch nicht auseinanderhalten. Es ist kein Geheimnis, daß viele Kinder glauben, Kühe seien lila – das suggeriert ihnen irgendeine Schokoladenwerbung. Inzwischen müssen sie gleichsam selber die Kuh lila anmalen; damit Mutti am nächsten Tag ihre Freundin anrufen kann: «War unser Schatz nicht goldig?» Und damit Vati die Dukaten zählen darf. Es ist ein Vergehen. Brutalität läßt sich nicht ausschließlich an blauen Flecken verprügelter Vierjähriger erkennen. Es gibt auch diese Form der Züchtigung. Und niemand schreitet ein. Was soll nicht alles verboten werden – das Rauchen im Restaurant, das Rauchen im Auto, wenn Kinder mitfahren, das Autofahren ohne Winterreifen, ein Kopftuch oder ein silbernes Kreuzchen an der Halskette; bald wird uns der Staat die Form der Brillen und die Farbe der Oberhemden vorschreiben. Aber gefilmte Obszönität wird tagtäglich zum Schlabbern ausgeboten; denn obszön ist nicht, was zwei Erwachsene im Schlafzimmer (oder anderswo) miteinander tun. Obszön ist, sich an Wehrlosen zu vergreifen und zu behaupten, es mache ihnen ja so viel Spaß. Es ist der glitschige Weg vom Kommunismus zum Konsumismus. «Die Revolution frißt ihre Kinder» hieß einmal ein wichtiges politisches Buch. Band II könnte heißen «Der Kapitalismus frißt seine Kinder».
    « DAS PLATEAU », 1 .  12 .  2006

Mein Tod gehört mir
    Es ist die verklebte Bürgerlichkeit, gegen die ich mich verwahre. Goethes Selbstmörderbestseller «Werther» ist Schullektüre so gut wie Schillers «Kabale und Liebe» oder Fontanes ergreifende Novelle «Schach von Wuthenow»; mit frischer Dauerwelle und wohlgekleidet applaudiert man in der Oper der Selbstmörderin «Tosca»; ehrfurchtsvoll sieht der Museumsbesucher die Werke von Kirchner oder Rothko, die sich töteten; einer der bedeutendsten deutschen Literaturpreise heißt nach Heinrich von Kleist, der sich erschoß; weder war Ernest Hemingway unheilbar erkrankt, noch litt Jean Améry an Krebs – sie wollten nicht mehr leben, wie Wladimir Majakowski, Yukio Mishima oder Virginia Woolf:
pars pro toto
Repräsentanten unserer Kultur, akzeptiert in ihrem Schicksal wie gepriesen für ihr Werk. Jeder von ihnen aber nahm «Sterbehilfe» in Anspruch, ob Gift, Pistole oder Samurai-Schwert. Die – auch von Matthias Kamann in seinem Artikel «Die Leichtfertigkeit der Sterbehelfer» in der «Welt» vom 24
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