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Stadt des Schweigens

Stadt des Schweigens

Titel: Stadt des Schweigens
Autoren: Margret Krätzig Erica Spindler
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Elternhaus über hohe Decken, Zypressenschnitzwerk und die Art von Charme, die es heutzutage nur für sehr viel Geld gab. Das ganze Viertel wirkte ein wenig antiquiert. Die Häuser lagen zurückgesetzt auf großen, schattigen Grundstücken an breiten Alleen mit Gaslaternen. Im Gegensatz zu anderen Orten, in denen der Innenstadtbereich als Folge von Kriminalität und dem Wegzug der weißen Bevölkerung verfiel, war der Stadtkern von Cypress Springs noch so gut erhalten wie zur Zeit seiner Erbauung.
    Obwohl Louisiana hauptsächlich aus flachem Land bestand, schmiegte sich der Bezirk von West Feliciana an sanft geschwungene Hügel. Cypress Springs lag an diesen Hügeln. St. Francisville, die historische Stadt am Fluss mit ihren schönen Antebellum-Häusern, lag zwanzig Minuten südwestlich, Baton Rouge fünfundvierzig Minuten südlich und das French Quarter von New Orleans zwei Dreiviertelstunden südöstlich.
    Außer dass es ein guter Ort war, um Kinder aufzuziehen, hatte Cypress Springs nichts, dessen es sich rühmen konnte. Als kleiner, ländlich geprägter Ort in den Südstaaten, der hauptsächlich von Viehwirtschaft und Kleingewerbe lebte, lag er zu weit von den Hauptverkehrsadern ab, um sich zu entwickeln.
    Die Stadtväter mochten es so, wie Avery wusste. In der Jugend hatte sie ihren Dad, Buddy und deren Freunde darüber reden hören, dass man die Industrie mit ihren schädlichen Einflüssen draußen halten wollte. Cypress Springs sollte sauber bleiben. Sie erinnerte sich an den Aufschrei, als Charlie Weiner seine Farm an die „Old Dixie Food Corporation“ verkauft hatte, die auf dem Anwesen eine Konservenfabrik errichten wollte.
    Avery fuhr verlassene Straßen entlang. Obwohl es noch nicht mal zehn Uhr war, hatte die Stadt bereits für die Nacht ihre Bürgersteige hochgeklappt. Welch ein Unterschied zu den Orten, an denen sie in den letzten zwölf Jahren gelebt hatte, wo es vierundzwanzig Stunden am Tag zu Verkehrsstaus kam, es nicht ratsam war, nachts allein auszugehen und die Menschen so nah aufeinander hockten, ohne dass ein Nachbar den anderen kannte.
    So schön und grün Washington, D.C., auch war, es hielt keinem Vergleich mit der üppigen Schönheit West Felicianas stand. Hitze und Feuchtigkeit lieferten das ideale Klima für eine abwechslungsreiche Vegetation: Azaleen, Gardenien, Oliven, Kamelien und Fächerpalmen. Eichen mit massigen, knorrigen Ästen, die so schwer waren, dass sie den Boden berührten. Hundertjährige Magnolien, die im Mai so voller Blüten hingen, dass die Luft schwer war vom süßen, zitronenartigen Duft.
    Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie diesen Ort für hässlich gehalten. Nein, das stimmte nicht ganz, eher für eine schäbige und mickrige Kleinstadt.
    Warum sah sie das heute anders? Avery bog in ihre Straße ein und in die Zufahrt des elterlichen Hauses. Sie parkte am Wegesrand, stieg aus und verriegelte den Wagen aus Gewohnheit, nicht aus Notwendigkeit.
    Sie dachte noch einmal an Matts letzte Worte. Was wollte sie tatsächlich hier, wohin gehörte sie?
    Die Schaukel quietschte, und eine Gestalt löste sich aus dem Schatten der überwucherten Olive am Ende der Veranda. Avery verlangsamte ihre Schritte.
    „Hallo, Avery.“
    Hunter. Erleichtert legte sie die Hand an die Brust und atmete aus. „Ich habe zu lange in der Großstadt gelebt. Du hast mich zu Tode erschreckt.“
    „Diese Wirkung habe ich leider auf Leute.“
    Sie lächelte zwar, erkannte jedoch den Wahrheitsgehalt seiner Bemerkung. Sein Gesicht lag halb im Schatten, die andere Hälfte wurde vom Verandalicht erhellt. In der schwachen Beleuchtung wirkten seine Züge hart und kantig, die Linien um Mund und Augen tief eingegraben. Der Schatten eines mehrere Tage alten Bartes verdunkelte zudem sein Kinn.
    In Washington wäre sie auf die andere Straßenseite gegangen, um ihm auszuweichen.
    Merkwürdig, wie unterschiedlich sich beide Brüder physisch entwickelt hatten. Obwohl sie zweieiige Zwillinge waren, war ihre Ähnlichkeit in der Kindheit geradezu unheimlich gewesen. Dass sie einmal nicht mehr das Spiegelbild des anderen sein würden, hätte sie sich damals nicht vorstellen können.
    „Wie ich hörte, bist du zurück“, sagte er. „Offensichtlich.“
    „Neuigkeiten verbreiten sich schnell.“
    „Dies ist eine Kleinstadt. Die Leute müssen etwas zum Reden haben.“
    Seine Veränderung hatte weniger mit der verstrichenen Zeit, als vielmehr mit der Summe der Ereignisse dieser Zeit zu tun. Die Schule der harten
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