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Stadt der tausend Sonnen

Stadt der tausend Sonnen

Titel: Stadt der tausend Sonnen
Autoren: Samuel R. Delany
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und nun fiel das Licht auf die transparente Kunststoffhülle seiner Wange. Der Teil seines Gesichts aus lebendem Fleisch lächelte. Koshar senkte die Augen unter dem direkten Blick. »Nein, das ist keine faire Frage«, murmelte er. »Ich weiß nicht, seit – seit jener Sekunde, als wir alle – na, Sie wissen schon. Seither sagt und fragt man vieles und beantwortet auch so manches, worüber man normalerweise geschwiegen hätte.«
    Wie peinlich, dachte Clea. Warum müssen sie denn alle von diesem blinden Augenblick der Verbindung reden, der das ganze Reich am Ende des Krieges mit Verlegenheit erfüllt hatte. Sie hatte gehofft, ihr Vater wäre anders. Es war nicht einmal so sehr Verlegenheit über das Geschaute, sondern einfach, daß diese Erfahrung so völlig neu gewesen war.
    »›Weshalb?‹ ist nie eine unfaire Frage«, versicherte ihm Catham. »Es liegt zum Teil an dem, was wir in jenem Moment sahen.« Er sagte es ohne Furcht. Das war einer der Gründe, weshalb sie ihn nun liebte.
    »Weil wir die Arbeit des anderen kannten. Und weil wir während jenes Augenblicks dem anderen ins Innerste sehen konnten. Und weil wir zwei sind wie wir sind, erfüllt diese Erkenntnis auch unser Herz und unsere Seele«, antwortete Catham nun.
    »Also gut, dann heiratet«, murmelte Koshar. »Aber …«
    Clea und Rolth sahen einander an.
    »Aber weshalb wollt ihr weg von hier?«
    Mit ernsten Gesichtern blickten sie den alten Mann an.
    »Clea«, murmelte Koshar. »Clea, du warst so lange von mir fort. Als kleines Mädchen gehörtest du mir. Doch dann gingst du auf die Universitätsinsel, und danach erklärtest du mir, daß du allein leben wolltest, und ich gestattete es. Und nun wollt ihr zwei weg, und diesmal weiß ich nicht einmal, wohin.« Er machte eine Pause. »Natürlich kannst du tun, was du willst. Du bist achtundzwanzig. Wie könnte ich dich zurückhalten? Aber, Clea … Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Ich habe bereits einen Sohn verloren. Und ich möchte nicht auch noch meine Tochter verlieren.«
    »Vater …«
    »Ich weiß, was du sagen willst, Clea. Doch selbst wenn dein jüngerer Bruder Jon noch lebte – aber es hat eben alles ganz den Anschein, als wäre er tot – ja, selbst wenn er noch lebte und in diesem Augenblick hier hereinspazierte – für mich wäre er tot.«
    »Vater, ich wollte, du würdest anders darüber denken. Jon tat etwas Dummes, Unüberlegtes, ja Kindisches. Er war ein tolpatschiges Kind, als er es tat. Und er bezahlte teuer dafür.«
    »Aber mein eigener Sohn in den Strafminen, ein gemeiner Verbrecher – ein Mörder!« Seine Stimme klang schwer. »Meine Freunde sind so taktvoll, ihn nicht zu erwähnen. Täten sie es, könnte ich niemandem mehr in die Augen sehen, Clea.«
    »Vater!« sagte Clea eindringlich. »Er war erst achtzehn und verzogen. Er verachtete mich, dich … Wenn er aber jetzt noch leben sollte, irgendwo, haben die acht Jahre ihn verändert, haben einen Mann aus dem unreifen Jungen gemacht. Du kannst deinem eigenen Sohn nach acht Jahren nicht mehr nachtragen, was er getan hat. Und wenn du niemandem mehr in die Augen schauen kannst, dann ist das vielleicht ein anderes Problem, das nichts mit Jon zu tun hat.« Sie spürte Rolths Hand auf der Schulter, eine sanfte Warnung, daß vielleicht weniger ihre Worte als ihr Ton ihr entglitten.
    »Ich werde ihm nicht vergeben«, sagte ihr Vater. »Ich kann ihm nicht vergeben.« Sein Blick wich ihrem aus. »Ich könnte es nicht. Ich würde mich zu sehr schämen …«
    »Vater!« Diesmal verriet ihr Ton all die Liebe, die sie für ihn empfand. Sie sah seine gekrümmte Haltung, die ineinanderverkrampften Finger. »Vater!« rief sie noch einmal und streckte die Hand nach ihm aus.
    Er richtete sich auf, die Finger lösten, die Augen hoben sich. Er griff nicht nach ihrer Hand, aber er murmelte: »Clea, du sagst, du mußt weg und du willst nicht, daß jemand weiß, wo du bist. Ich liebe dich, und ich möchte, daß du alles bekommst, was du willst. Aber zumindest – Briefe oder … Damit ich weiß, daß es dir gut geht, damit ich weiß …«
    »Briefe, das geht nicht«, sagte sie. Aber schnell fügte sie hinzu. »Doch du wirst es wissen.«
    »Clea, wir müssen jetzt gehen«, mahnte Catham.
    »Lebewohl, Vater. Ich liebe dich.«
    »Ich liebe dich«, rief er. Aber sie waren bereits im Innern des Hauses verschwunden.
    »Ich wollte, ich könnte es ihm sagen.« Clea seufzte, als sie die Haustür erreichten. »Daß Jon lebt, und auch weshalb wir
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