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Stadt der tausend Sonnen

Stadt der tausend Sonnen

Titel: Stadt der tausend Sonnen
Autoren: Samuel R. Delany
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mein Freund Kino. Kino, das ist meine Frau, Renna.« Das sprach er solo.
    »Ich nehme an, du wirst jetzt nicht mehr allzu viel mit deiner alten Gang zu tun haben.« Kino bohrte mit einem schmutzigen Finger in einem noch schmutzigeren Ohr. »Aber du warst ja im Grunde auch nie ein echter Gang-Mann. Nun kannst du an einem Schreibtisch sitzen und Gedichte reimen, wie du es immer wolltest, und dein Leben genießen.« Als der ungewaschene Bursche, der zu alt für einen Straßenjungen und zu jung für einen Verbrecher war, »Leben« sagte, blickte er sie an, und all die Sehnsucht seines ruhelosen Alters flammte in seinen Augen auf.
    »Nein, ich bin kein Gang-Mann, Kino«, pflichtete Vol ihm bei. »Du erinnerst dich doch an Jeof, nicht wahr? Dieser dumme Streit zwischen ihm und mir gab den Ausschlag. Ich beschloß, mich ganz aus dieser Dissi-Sache zurückzuziehen. Wir werden in ein paar Tagen aufs Festland fahren. Wir haben von einem Ort gehört, den wir uns gern ansehen möchten.«
    Kino tappte mit einer nackten Zehe auf das Kopfsteinpflaster. »Ich wollte Jeof nicht erwähnen, aber da du es selbst getan hast, muß ich dir beipflichten, daß es eine gute Idee von dir ist, auszusteigen. Denn er ist ein Gang-Mann durch und durch, bis zur Wurzel von jedem einzelnen verfaulten Zahn in seinem Mund.« Er grinste verlegen. »Ich muß noch wohin. Paß auf, daß Jeof sie nicht sieht.« Er deutete mit dem Kopf auf Renna, und da sah auch Vol sie an. Ihre dunkle Haut wirkte bleich im Licht der Neonlampe. Kino war verschwunden, und sie war …
    … wunderschön, als sie durch die dunklen Straßen des Höllenkessels schlenderten und schließlich in die alte, baufällige Pension traten; wunderschön, als sie den dunklen Gang entlangschritten und gemeinsam die Treppe zu seinem Zimmer hochstiegen.
    An der Wand war eine großartige Zeichnung geheftet, sein Porträt, das sie mit roter Kreide auf braunes Papier skizziert hatte. Auf dem wackligen Tisch vor dem Fenster lag ein kleiner Stoß Papier. Auf dem obersten Blatt war der fertige Entwurf eines Gedichts, das durch seine exquisite Wortwahl und die strahlende Lebendigkeit ihr Porträt war.
    Er setzte sich mit überkreuzten Beinen auf die körperwarme Bettdecke und blickte sie an, bis seine Augen vor Anstrengung, die Lider offenzuhalten, schmerzten. Nichts durfte ihm von ihrer Schönheit entgehen, das schwache Beben ihrer Nasenflügel, das Heben und Senken ihrer Brust. Seine Augen füllten sich vor Glück mit Tränen. Er mußte blinzeln und wegschauen.
    Als sein Blick erneut auf das Fenster fiel, runzelte er die Stirn. Gestern abend war es noch nicht zersprungen gewesen. In der linken unteren Ecke war ein Loch, von dem die Sprünge wie ein Strahlenkranz ausgingen. Jemand mußte einen Stein durchs Fenster geworfen haben. Er stand auf und ging zum Tisch. Glassplitter funkelten auf dem Papier. Der Stein lag auf dem Tisch, mit einem Stoffstreifen mehrmals umwickelt. Als er ihn herunter rollte und die im Stoff verschwommenen Tintenworte las, verlor sich das strahlende Funkeln. Kleine Hämmer schlugen nun gegen den harten Knoten der Angst, die ihn schon so lange begleitete.
    Hab’ Jeof gesehen. Er sagt, er wird dich mit Haut und Haaren verschlingen. Hau sofort ab. Er meint es! Kino.
    Er vergeudete zwei Sekunden mit der Überlegung, weshalb sie nicht aufgewacht waren, als der Stein das Fenster zerbrochen hatte. Ein Krachen im Parterre unterbrach seinen Gedankengang. Er drehte sich um und sah sie die Augen öffnen. Braune Teiche mit goldenen Pünktchen waren es. Ihr Lächeln erhellte die schmutzigen Holzwände. »Und ich liebe dich auch heute morgen«, sagte sie.
    Der Krach unten hörte sich wie das Zertrümmern von Möbelstücken an.
    Schweigend stellte sie ihm, den Kopf schräggelegt und die Lippen leicht geöffnet, eine Frage. Er antwortete mit einem Stirnrunzeln und einem Zucken seiner nackten Schultern.
    Eilige Schritte auf der Treppe, dann die scharfe Stimme der Hauswirtin: »Ihr könnt nicht einfach so eindringen! Das hier ist eine anständige Pension. Ich habe einen Gewerbeschein. Seht zu, daß ihr verschwindet! Ich sagte doch, daß ich einen …«
    Die Stimme verstummte würgend. Etwas schlug schwer gegen die Tür. Sie sprang auf und prallte heftig gegen den Fuß des Bettes. »Guten Morgen.«
    »Was wollt ihr hier?« fragte Vol.
    Er bekam keine Antwort. In dem drückenden Schweigen starrte er den gedrungenen Neandertaler an, dessen Gesicht mit sechs sich überkreuzenden Narben gezeichnet
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