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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel
Autoren: Christa Wolf
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Betrag verloren hatte, der mein Limit war: Sechzig Dollar.
    Jetzt aufzuhören sei Schwachsinn, sagte Lowis, man müsse dem Schicksal, das sich hinter diesem Spiel verstecke, Gelegenheit geben, sich zu zeigen. Er wendete sich wieder dem Spieltisch zu, ich verabschiedete mich von Sanna, die selbst nicht mehr spielte, sondern sich hinter Lowis postiert hatte. Warum ich schon gehen wolle. Es sei noch nicht Mitternacht, um diese Zeit schlafen zu gehen, das sei hier sittenwidrig. Mir sei langweilig, sagte ich, wahrheitsgemäß. Sanna lachte: Dann sei ich allerdings keine Spielernatur. Lowis dagegen … Er scheine gerade einen Teil seines Wesens zu entdecken, der ihm selbst bisher unbekannt gewesen war.
    Ich sagte, das erfahre doch jeder mindestens einmal in seinem Leben, nur daß es bei mir eben andere Wesenszüge seien als bei Lowis, die nach oben drängten. Allerdings, sagte Sanna. Ich solle schlafen gehen. Sie müsse bei Lowis bleiben, was immer er in dieser Nacht anstellen werde. Es sei eine Ausnahmenacht in seinem Leben.
    Ich konnte nur staunen über die Klugheit dieser jungen Frau. Ich war plötzlich so müde, daß ich kaum mein Zimmer fand. Ehe ich einschlief, versuchte ich mit Angelina in Kontakt zu kommen, aber natürlich folgte mir kein Engel an diesen Ort. Du hast also gelogen, sagte ich, als du versprachst, du würdest immer da sein, wenn ich dich brauche. Auch Engel lügen. Das hatte etwas Tröstliches. Etwas vollkommen Vollkommenes hätte ich schwer ertragen.
    Draußen war es taghell von der elektrischen Lichterflut, aufgeregte Leute schrien auf der Straße. Ich mußte noch einmal aufstehen und die schweren Vorhänge vorziehen. In der Minibar fand ich ein Fläschchen Sekt, das trank ich aus. Dann mußte ich Berlin anrufen.
    Ist was passiert, rief eine aufgeregte Stimme. – Nein, nichts. Das ist es ja. – Sag mal, bist du beschwipst? – Das auch. Aber vor allem will ich dich was fragen. – Frag. – Ist dir eigentlich klar, daß der ganze Inhalt deines Kopfes mit verlorengeht, wenn du stirbst? – Freilich. Außer dem, was du aufgeschriebenhast. – Ach. Dieser Bruchteil. Es scheint dich nicht zu stören. – Ich denke nicht andauernd daran. – Ich schon, seit kurzem. Nun schweigst du. Was ich noch sagen wollte: Wir werden älter. – Danke für die Mitteilung. – Gute Nacht.
    Eine ferne Stimme. Ein ferner Ort. Menschenmassen, ein Demonstrationszug, der sich in Richtung Rotes Rathaus bewegt, ohne eine Anweisung zu brauchen. Aus den U-Bahnschächten strömen sie auf den Alexanderplatz, richten ihre Schilder auf, entfalten ihre Transparente. Eine Mischung von Fröhlichkeit und Stolz und Entschlossenheit geht von ihnen aus, die du weder vornoch nachher auf so vielen Gesichtern gesehen hast und die dich ansteckt. Du fühlst, wie die Ängste der Nacht sich auflösen, sie schwinden, als dir am frühen Morgen rund um den Alexanderplatz die Ordner mit den orangefarbenen Schärpen KEINE GEWALT in bester Stimmung entgegenkommen, Theaterleute, du kennst viele, eine befreundete Schauspielerin kommt auf dich zu. Brecht, sagt sie, da hätte er dabeisein sollen: Haben wir beschlossen: nunmehr schlechtes Leben / Mehr zu fürchten als den Tod. Daß sein Stück von der Bühne auf die Straße springt. Und das Wunder, daß die Losung KEINE GEWALT im ganzen Land, von jedermann befolgt wird.
    Eine provisorische, aus einem Leiterwagen errichtete Tribüne, auf der die Redner sich abwechseln. Es war das Unvorstellbare, das sich in Wirklichkeit verwandeln wollte. Und das, ihr ahnt es, nur eine historische Sekunde andauern konnte. Aber es hat es gegeben. Die Blumenhändlerin, die vor ihrem Geschäft steht und Flugblätter verteilt: Jetzt muß man dabeisein. Das darf man nicht versäumen.
    Später Häme, Hohn und Spott, natürlich. Utopieverbot. Aber diese offenen, aufgerissenen Gesichter habe ich doch gesehen. Diese glänzenden Augen. Diese freien Bewegungen. Sie wurden gestoppt, ja. Die Augen richteten sich bald auf die Auslagen der Schaufenster und nicht mehr auf ein fernes Versprechen. Die Roulettetische gewannen an Zulauf.
    Durch Lärm vor dem Hotel wurde ich wach und schlief nicht mehr ein.
    Am Morgen herrschte hier schon ein Licht, das den Augen weh tat. Lowis erschien mit einer riesigen Sonnenbrille beim Frühstück. Er sei noch etwas müde, sagte Sanna. Sie seien erst um vier ins Bett gekommen. Ach so. Ich merkte, daß es nicht angebracht war, sich zu erkundigen, wieviel er gewonnen hatte. Viel später, als wir im Auto
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