Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
nicht schlafen, das Gesicht meiner Großmutter tauchte vor mir auf. Warum ich so bedrückt sei, wollte Angelina von mir wissen. Was ist mit deiner Großmutter. – Sie ist 1945 auf der Flucht verhungert. – Und? – Und ich habe nie wirklich um sie getrauert.
    Mochtest du sie nicht, fragte Angelina.
    Sie war eine gefühlskarge, rechtschaffene Frau. Sie war ein schlichtes Dorfmädchen, bitter arm, das sich im Sommer als Garbenbinderin auf den ostelbischen Gütern verdingte, wo sie meinen Großvater kennenlernte, der Saisonschnitter war, ehe er zur Bahn ging und sich zum Lokomotivheizer hocharbeitete. Wozu er bei einem Lehrer, den sein Sohn, mein Vater, ihm vermittelte, soviel Lesen und Schreiben lernte, daß er die Prüfung bestand. Lange Jahre hausten sie in einer Kellerwohnung. Ob meine Großmutter richtig schreiben konnte, weiß ich nicht, ich habe nie etwas Geschriebenes von ihr gesehen. Sie legte die Pfennige aufeinander, wir Kinder bekamen für ein gutes Zeugnis von ihr einen Groschen.
    Und? fragte Angelina. Was hat dich gehindert, um sie zu trauern?
    Ich habe mir verwehrt zu denken, daß sie ein unschuldiges Opfer war, sagte ich. Ich habe meine Gefühle abgeschnitten, weil ich den Verlust der Heimat und unsere Leiden als gerechte Strafe für die deutschen Verbrechen empfinden sollte undwollte. Ich habe mich auf den Schmerz nicht eingelassen. Meine Großmutter war, als sie starb, nur wenig älter als ich heute bin, Angelina. Nun erscheint mir ihr Gesicht bei Nacht, wenn ich nicht schlafen kann. Warum gerade jetzt? Und warum hier?
    Angelina antwortete nicht.
    Morgens schrieb ich in mein Ringbuch:

    das weiss ich doch schon lange, dass die eigentlichen verfehlungen diejenigen sind, die im stillen geschehen, und nicht die öffentlich sichtbaren. und dass man diese stillen verfehlungen sehr lange vor sich selbst verleugnet und verschweigt und dass man sie niemals ausspricht. zäh und dauerhaft hüten wir dieses innerste geheimnis.

    Wenigstens eine Nacht wollten wir in Las Vegas verbringen. Las Vegas, hatte man uns gesagt, sei der Brennpunkt jenes Amerika, nach dem die Ausländer so stark verlangten. Das Hotel Mirage hatte uns mit seiner Werbebroschüre angelockt. Unsere Zimmer waren gebucht, erstaunlich billig. Man solle sein Geld in den Spielhallen lassen, sagte Lowis. Er zeigte eine Unruhe, einen Drang, schnell in Las Vegas zu sein, die mich erstaunten. Sanna und ich verständigten uns durch belustigte Blicke hinter seinem Rücken. Lowis sagte, wir sollten nicht so überheblich sein. Wir sollten nicht abstreiten, daß bestimmte Bedürfnisse, die der moderne Mensch sonst unterdrücken müsse, an Orten wie Las Vegas ernst genommen und ausgelebt werden könnten. Was diesen modernen Menschen, wenn er in sein Alltagsleben zurückkehre, befähige, wieder zu funktionieren, ohne krank zu werden.
    Er winkte den Werbern am Straßenrand zu, deren Aufgabe es war, Heiratswillige anzulocken, um sie dann in eines der vielen kleinen hölzernen Gebäude zu treiben, in denen in ganz kurzer Zeit und sehr preiswert die Ehe geschlossen wurde. Na, sagte Lowis zu Sanna. Wollen wir? – Lieber gar nicht als so,sagte sie. Ob er auch dieses Angebot als eine Art Therapie betrachte. Warum nicht? sagte er. Wenn man die puritanischen strengen Ehegesetze, die sonst herrschten, dagegenhalte.

    Das Mirage versprach jedem, der seine Schwelle überschritt, den

EINTRITT IN EINE PARADIESISCHE WUNDERWELT
    EINTRITT IN EINE PARADIESISCHE WUNDERWELT Ich erinnere mich anhand der Bilder, die der Prospekt zeigt, der Gefühle, die mich ergriffen, als wir in die riesige, von exotischen Pflanzen, einschmeichelnder Musik und betäubenden Düften erfüllte Eingangshalle eingetreten waren: Ich fing an, mich zu wehren. Widerwillig folgte ich den Wegweisern zu den Fahrstühlen, die uns zu großen Umwegen zwangen, nur damit wir an den Sälen mit den Roulettetischen und an den Reihen der einarmigen Banditen vorbeigehen mußten, und Lowis machte sich lustig über unseren Unmut angesichts dieser billigen Tricks: Ja meinten wir denn, ausgerechnet an diesem Ort herrsche zwischen den Betreibern ein Wettbewerb darüber, wer am ehrlichsten mit seinen Besuchern umgehe und wer sie am wenigsten täusche?
    Ich spürte von Anfang an eine Luftknappheit. So, als hätte jemand eine Blase, in der wir uns befanden, aufgepumpt und dabei den Sauerstoff verdünnt, mit dem wir auskommen mußten. In dem riesigen luxuriösen Zimmer warf ich mich auf das überweiche Bett und mußte gegen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher