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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel
Autoren: Christa Wolf
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Schriftzügen geronnen, weltbekannte Markennamen, Werbetafeln in grellen Farben für Supermärkte, für Bars und Restaurants, die den Nachthimmel überstrahlten. Ein Wort wie »geordnet« war hier wohl fehl am Platze, auf dieser Küstenstraße, womöglich auf diesem Kontinent. Sehr leise, schnell wieder unterdrückt, kam die Frage auf, was mich eigentlich hierhergetrieben hatte, gerade so laut, daß ich sie wiedererkannte, als sie sich das nächste Mal, dann schon dringlicher, meldete. Immerhin, als sei das Grund genug, glitten die schuppigen Stämme von Palmen vorbei. Geruch von Benzin, von Abgasen. Eine lange Fahrt.
    Santa Monica, Madam? – Yes. – Second Street, Madam? – Right. – Ms. Victoria? – Yes. – Here we are.
    Zum ersten Mal das Blechschild, am Eisenzaun befestigt, angestrahlt: hotel ms. victoria old world charm. Alles still. Alle Fenster dunkel. Es war kurz vor Mitternacht. Der Fahrer half mir mit dem Gepäck. Ein Vorgarten, ein Steinplattenweg, der Duft unbekannter Blüten, die sich nachts zu verströmen schienen, der schwache Schein einer leise schaukelnden Lampe über der Eingangstür, ein Klingelbrett, hinter dem ein Papier mit meinem Namen steckte. Welcome, las ich. Die Tür seioffen, ich solle eintreten, in der Halle auf dem Tisch liege der Schlüssel zu meinem Apartment, second floor, room number seventeen, the manager of ms. victoria wishes you a wonderful night.
    Träumte ich? Aber anders als in einem Traum verirrte ich mich nicht, fand den Schlüssel, benutzte den richtigen Treppenaufgang, der Schlüssel paßte in das richtige Schloß, der Lichtschalter war da, wo er zu sein hatte, ein Wimpernschlag, und ich sehe alles vor mir: Zwei Stehlampen beleuchteten einen großen Raum mit einer Sesselgruppe und einem langen Eßtisch an der gegenüberliegenden Wand, der von Stühlen umstellt war. Ich bezahlte den Taxifahrer anscheinend zu seiner Zufriedenheit mit dem ungewohnten Geld, das ich zum Glück vor dem Abflug in Berlin eingetauscht hatte, bedankte mich bei ihm in angemessener Weise und bekam, wie es sich gehörte, zur Antwort: You are welcome, Madam.
    Ich inspizierte mein Apartment: Außer diesem großen Wohnraum eine angrenzende Küche, zwei Schlafzimmer, zwei Bäder. Welche Verschwendung. Eine vierköpfige Familie könnte hier bequem wohnen, dachte ich an jenem ersten Abend, später gewöhnte ich mich an den Luxus. Ein Willkommensgruß von einer Alice lag auf dem Tisch, dies mußte die Mitarbeiterin des CENTER sein, die die Einladungsbriefe unterschrieben hatte, und sie war es wohl auch, die mir fürsorglich Brot, Butter, ein paar Getränke in die Küche gestellt hatte. Ich kostete von allem etwas, es schmeckte merkwürdig.
    Ich machte mir klar, daß dort, wo ich herkam, schon Morgen war, daß ich telefonieren konnte, ohne jemanden im Schlaf zu stören. Nach einigen fehlgeschlagenen Versuchen, bei denen mehrere overseas operators sich um mich bemüht hatten, gelang es mir, das Telefon in dem winzigen Kabinett neben der Eingangstür mit den richtigen Nummern zu bedienen, hörte ich hinter dem Rauschen des Ozeans die vertraute Stimme. Das war das erste der hundert Telefongespräche nach Berlin in den nächsten neun Monaten, ich sagte, ich sei nun also auf deranderen Seite der Erdkugel gelandet. Ich sagte nicht, was ich mich fragte, wozu das gut sein sollte. Ich sagte noch, daß ich sehr müde sei, und das war ich ja wirklich, eine fremde Müdigkeit. Ich suchte Nachtzeug aus einem der Koffer, wusch mir Gesicht und Hände, legte mich in das zu breite zu weiche Bett und schlief lange nicht. Früh erwachte ich aus einem Morgentraum und hörte eine Stimme sprechen: Die Zeit tut, was sie kann. Sie vergeht.
    Dies waren die ersten Sätze, die ich in das große linierte Heft schrieb, das ich vorsorglich mitgebracht hatte und auf die Schmalseite des langen Eßtischs legte und das sich sehr schnell mit meinen Notizen füllte, auf die ich mich jetzt stützen kann. Inzwischen verging die Zeit, wie es mir mein Traum lakonisch mitgeteilt hatte, es war und ist einer der rätselhaftesten Vorgänge, die ich kenne und die ich, je älter ich werde, um so weniger verstehe. Daß der Gedankenstrahl die Zeitschichten rückblickend und vorausblickend durchdringen kann, erscheint mir als ein Wunder, und das Erzählen hat an diesem Wunder teil, weil wir anders, ohne die wohltätige Gabe des Erzählens, nicht überlebt hätten und nicht überleben könnten.
    Zum Beispiel kann man sich solche Gedanken flüchtig durch
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