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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel
Autoren: Christa Wolf
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gegeizt hatten, während in mir der Eindruck sich verfestigte, daß sie oder ihre unsichtbaren übergeordneten Vorgesetztendie Herausgabe dieses wichtigen Dokuments absichtlich hinauszögerten, weil sie sich erst davon überzeugen wollten, daß sich der Kontostand dieser Kundin zwar geringfügig, doch stetig erhöhte und kaum Gefahr lief, einen plötzlichen Kollaps zu erleiden. Immer noch überkam mich manchmal ein Gelächter, wenn ich bedachte, wie unterschiedlich die Gründe für Mißtrauen gegen mich in den verschiedenen Gesellschaftsformationen waren, in denen ich gelebt hatte und lebte.
    Jedenfalls ersparte ich es mir, zu den Bankschaltern abzubiegen, ging stracks auf die Fahrstühle zu und registrierte nicht ohne Genugtuung, daß der Pförtner – Wächter? – mich zum ersten Mal mit jener Geste begrüßte, die unter den zahllosen Besuchern dieses Hauses denjenigen vorbehalten war, die er in den inneren Zirkel der Zugehörigen aufgenommen hatte. How are you today, Madam? – O great! – Es gibt Steigerungsstufen für jedes Wohlbefinden.
    Von den vier Fahrstühlen nahm ich wie immer den zweiten von links und betrachtete dann bewundernd die junge Dame aus dem staff, die mir gegenüberstand und, superschlank in ihrem knapp sitzenden Kostümchen, einen aus Goldpapier geformten Schwan, ein Geschenk, auf ihrer flachen Hand, nach oben schwebte in die höheren Sphären, in den zehnten Stock, in den ich mich nie verirrte. How are you today? – Fine, hörte ich mich sagen, Anzeichen dafür, daß neue Reflexe sich bildeten, denn vor ganz kurzer Zeit, gestern noch, hätte ich in meinem Gehirn gegraben nach einer zutreffenden schnellen Antwort, die pretty bad hätte lauten können – warum eigentlich? Darüber müßte ich später nachdenken –, aber nun hatte ich begriffen, daß von mir nichts erwartet wurde, als ein Ritual zu bedienen, das mir auf einmal nicht mehr verlogen und oberflächlich, sondern beinahe human vorkommen wollte. Elevatorsyndrom.
    Wie immer stieg ich im vierten Stock aus, wo der schwarze Security-Mann mich schon mit meinem Namen anzureden wußte und mir einen Umschlag überreichte, der für michabgegeben worden war; wo ich automatisch zum richtigen Haken im Schränkchen mit den Schlüsseln griff, Identity Card, mit meinem Foto versehen, am Jackettaufschlag zu befestigen, ein weiteres wichtiges Zeichen für Zugehörigkeit, und darauf kam es ja schließlich an.
    Die zwei Treppen zum sechsten Stock ging ich manchmal zu Fuß, manchmal, wenn die Gelenke zu stark schmerzten, fuhr ich mit dem Fahrstuhl. Den Weg zwischen den Regalen, in denen die Fotos aller Kunstwerke aller Jahrhunderte und aller Kontinente archiviert sind, fanden meine Füße von allein, es passierte mir nicht mehr, daß ich einen falschen Schlüssel in eine falsche Tür steckte. Ich öffnete also die Tür zu meinem Büroraum und war schon so blasiert, daß ich nicht mehr jeden Morgen sofort an das große Fenster treten mußte, um hinter der Second Street, einer Häuserzeile und einer Palmenreihe mit einem Gefühl, das dem der Andacht nahekam, den Pazifischen Ozean hingebreitet zu sehen. Das Telefon. Es war Berlin, die Stadt war auf eine Stimme zusammengeschmolzen, die ich täglich hören mußte. Die wollte mich an die Ostsee erinnern. Die Ostsee, nun ja. Sie ist mir lieb und wert, und sie wird es bleiben, und daß ich auf Dauer eine grandiose Landschaft nicht aushalte, die Alpen etwa, das ist ja bekannt. Aber das Gefühl, daß bis Japan nichts mehr kommt, einfach nur immer diese unendliche Wasserfläche! Waren meine Gefühle übertrieben?
    Ich legte meine Tasche ab, in der ich jenes Bündel Papiere mit mir herumtrug, das mir zwei Jahre zuvor nach dem Tod meiner Freundin Emma zugefallen war und das mir, das ist nicht zuviel gesagt, auf der Seele brannte: Briefe einer gewissen L., von der ich nichts wußte, als daß sie in den USA gelebt hatte und mit meiner Freundin Emma, deren Altersgenossin sie war, eng befreundet gewesen sein mußte. Auch dieser Briefe wegen war ich hierhergekommen und wiegte mich in der Illusion, hier müßte es möglich sein, herauszufinden, wer diese »L.« eigentlich war.
    Ich ging zum Zentrum des office, winkte im Vorübergehenin offene Türen, wo meine Kollegen auf Zeit in ihren Zellen an ihren Computern saßen, wenn sie nicht irgendwo in dem weitläufigen Gebäude in der Bibliothek oder in Archiven eine Spur verfolgten oder sich in der Stadt mit anderen Wissenschaftlern trafen. Manchmal beneidete ich sie um ihr
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