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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel
Autoren: Christa Wolf
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du. Sie sagten: Eine Volksarmee schießt doch nicht auf das Volk. – Hut ab, sagtest du. – Und das sei nun alles, was sie dafür kriegen würden? – Ich fürchte ja, sagtest du. – Dann seien sie, sagten die drei, die Verlierer der Einheit.
    Die Lounge. Bruchteile von Sekunden war ich abwesend, die Erinnerung übertrifft das Licht an Geschwindigkeit. Ich würde den Zeitungsartikel meines Kollegen kopieren und ihn zu den anderen Ausschnitten und Kopien in das Regal in meinem Apartment legen, ein Stapel, der schnell wuchs, den ich über den Ozean mit zurücknehmen würde, per Luftfracht, um ihn zu Hause auf ähnliche, allerdings ungleich größere Stapel zu legen, unnütze Staubfänger, die aber irgendwann einmal gebraucht werden könnten, um eine Erinnerung zu stützen, der ich sonst nicht trauen würde. Nicht mehr trauen könnte. Für den Notfall. Obwohl mir bewußt war, daß das Gedächtnis, welches die Zeitungen mir lieferten, für meine Arbeit höchstens den Wert einer Prothese hatte.
    Francesco stöhnte über seiner italienischen Zeitung. Die Politiker richten uns zugrunde, sagte er, diese Verbrecher. Mein Land versinkt in Korruption. Ich zeigte ihm meinen Artikel, er las ihn kopfschüttelnd. Sind denn alle verrückt geworden, sagteer, ich hoffe, du nimmst dir diesen Unsinn nicht zu Herzen. Ich sagte ihm nicht, was ich mir zu Herzen nahm. Er sagte, wie sehr er sich wünschen würde, auch einmal eine Revolution zu erleben. Wie er sich vorstelle, daß das Lebensgefühl eines Menschen, das unser Alltag doch je länger je mehr erdrücke, durch eine solche Erfahrung dauerhaft verändert, er denke: befeuert würde.
    Ich überwand meine mir selbst nicht ganz verständliche Abneigung, über jene Tage zu sprechen. Ich sagte, ja, daß ich das erleben, daß ich teilnehmen durfte an einer der seltenen Revolutionen, welche die deutsche Geschichte kennt, das habe mir jeden Zweifel darüber genommen, ob es richtig gewesen sei, in dem Land geblieben zu sein, das so viele mit Grund verlassen hätten. Nun sei ich sogar froh darüber. Aber irgendein Defekt, mit dem ich anscheinend behaftet sei, verhindere, daß ich bei sogenannten historischen Ereignissen die ihnen angemessene Stimmung empfände. An jenem 4. November zum Beispiel, sagte ich, ein Tag für Hochgefühl, überfiel mich mitten in meiner Rede vor den Hunderttausenden, die auf dem Platz standen, meine mir wohlbekannte Herzrhythmusstörung, welche die Ärzte partout nicht mit psychischen Erlebnissen in Zusammenhang bringen wollten, und ich mußte mit einer der am Rand der Demonstration bereitgestellten Ambulanzen in die nächste Klinik gebracht werden, in der alles vorbereitet war für die Aufnahme vieler Patienten. Ich aber war die erste und einzige, die eingeliefert wurde, und ich traf auf ein Team von Ärzten und Schwestern, die mich für eine Erscheinung hielten, weil sie mich eben noch quicklebendig auf dem Bildschirm gesehen hatten. So lag ich denn für den Rest der Veranstaltung auf einer Liege in einer Notaufnahme und wartete die Wirkung einer Spritze ab. – Soviel, lieber Francesco, in Sachen Lebensgefühl. Wir lachten. Ich versprach, an der Tour teilzunehmen, die Francesco für den nächsten Tag organisiert hatte und die uns zu einer modernen Kunstinstallation führen sollte.
    Pat und Mike, die jungen Amerikaner mit ihrenClinton-Buttons an der Bluse, Assistenten unserer Abteilung, brüteten über der »New York Times« vom Wochenende, welche die Wahlchancen der Demokraten vermindert sah. Mike sagte düster: If Clinton doesn’t win, I have to leave my country. – Why that? – Die beiden, die jeden Abend im Wahlkampfbüro der Demokraten arbeiteten, erklärten mir, wie schwer es Liberale, nicht zu reden von Linken! in den letzten Jahren gehabt hätten, einen angemessenen Job zu finden, wie stockig und niederziehend, auch denunziatorisch, die Atmosphäre in den öffentlichen Ämtern, bis in die Universitäten hinein, geworden sei, wie man habe abwägen müssen, mit wem man noch offen sprechen konnte, und daß junge Leute wie sie überhaupt keine Perspektive gehabt hätten, ohne sich bis zur Selbstverleugnung anzupassen. Davon höre man im Ausland wohl wenig? – In der Tat, sagte ich.
    Dann aber versammelten wir uns alle zum Schauspiel des Sonnenuntergangs über dem Pazifik, ein Ritual, das nicht verabredet war, aber meistens eingehalten wurde, und die Sonne machte aus ihrem Untergang etwas Besonderes, eine Steigerung, die wir nicht für möglich gehalten
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