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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel
Autoren: Christa Wolf
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auf den kleinen mexikanischen Herrn zustrebte, der an einem schalterähnlichen Tischchen saß und den Hausmeister darstellte, »Herr Enrico«, geschätzt und beliebt bei allen Bewohnern des ms. victoria . Zu meiner Verwunderung erhob sich der, als die merkwürdige Dame sich ihm näherte, und empfing in nicht gerade unterwürfiger, doch achtungsvoller Haltung Anweisungen von ihr. Dies konnte also nur Mrs.Ascott sein. Sie beschenkte mich, als wir uns nun endlich in der Halle begegneten, mit einem fahrigen Blick aus ihren wäßrig blauen Augen, zum ersten Mal hörte ich ihr übertrieben freundliches, mit hoher zittriger Stimme ausgestoßenes »Hi!« und gewann den Eindruck, daß diese Hotelmanagerin nicht die blasseste Ahnung hatte, wer ihr da in ihrem Hotel entgegenkam und was sich unter dem Dach, unter dem sie für Ordnung sorgen sollte, überhaupt zutrug.
    Beweisen könnte ich es nicht, aber ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß ich alle Einladungen, noch einmal in diese Stadt zurückzukehren, in den letzten Jahren nicht zuletzt deshalb abgelehnt habe, weil ich das ms. victoria nicht als halbzerstörte Ruine oder als ein neu errichtetes modernes Gebäude antreffen wollte. Wie ich mir vorstellen kann, daß frühere europäische Gäste der Stadt New Orleans nicht mehr dorthin fliegen wollen, nachdem sie diese Stadt in Fernsehbildern überflutet gesehen haben, ihre ärmsten Bewohner bis zur Brust durch verseuchtes Wasser watend. Aber darin habe ich mich wohl getäuscht.

    Ehe ich dazu übergehe, einige der wichtigen Personen einzuführen, die meinem Aufenthalt Spannung geben sollten, muß ich mich erinnern, womit ich meine Zeit verbrachte, wenn ich nicht allein oder mit Kollegen unterwegs war, um in die Stadt einzudringen oder ihre Vorteile zu genießen. Da ich mein eigentliches aberwitziges Projekt, eben jene L. ausfindig zu machen, deren Briefe an meine Freundin Emma ich mit mir herumtrug, nicht näher diskutieren wollte, mußte ich Arbeit vortäuschen. Also setzte ich mich, wie alle anderen, mehrere Stunden am Tag in mein Büro, dessen Tür offenblieb wie die Türen der anderen auch, und fuhr damit fort, meine Tage hier getreulich und ausführlich zu dokumentieren, auf meinem elektrischen Maschinchen, einer BROTHER, die ich mir überflüssigerweise mitgebracht hatte, weil ich sie für ein Übergangsmodell zum Computer hielt und mich an die echten Computer noch nichtherantraute, die hier natürlich allen zur Verfügung standen und von den anderen auch genutzt wurden. Die Tatsache, daß ich die Älteste war, ließ man großzügig als Entschuldigung für meinen blamablen Rückstand in technischen Fertigkeiten gelten, den ich allerdings später aufholte. Jedenfalls saß ich immer arbeitsam vor meinem Maschinchen und merkte schnell, daß die Zeit, die mir zur Verfügung stand, für diese ausführlichen Tagesprotokolle kaum ausreichte. Sie, die Protokolle, häufen sich jetzt um mich herum auf verschiedenen provisorischen Tischen, werden aber weniger häufig als Gedankenstütze herangezogen, als man denken sollte. Übrigens schrieb ich ja auch Gedankensplitter auf, Überlegungen, die mit den Tagesnotizen scheinbar nichts zu tun hatten. So finde ich gerade, in Kapitälchen geschrieben:

    die stadt kannst du wechseln, den brunnen nicht. das soll ein altes chinesisches sprichwort sein, es kommt mir sehr nahe, aber stimmt es überhaupt, hat es eigentlich einen sinn. und widerspricht es nicht dem losungswort, das mich heimlich hierherbegleitet hat und das anscheinend distanz heisst.

    Der Mensch ist geheimnisvoll, sagte die Stimme am Telefon, und wenn wir solche Familiensätze wechselten, ging es mir im allgemeinen gut, natürlich geht es mir gut, wie denn sonst. Und warum und wovon Distanz?
    Eine Krise soll ja auch ihre Vorteile haben, jedenfalls behaupten das Leute, die gerade nicht in einer Krise stecken. Der Hauptvorteil einer Krise sei es, den von ihr Befallenen in Zweifel zu stürzen. Zum Beispiel: Die uralte Tatsache, daß von allem, was gleichzeitig geschieht und gedacht und empfunden wird, in dem linearen Schriftzug auf dem Papier nicht gleichzeitig die Rede sein kann, macht mir plötzlich wieder so zu schaffen, daß der Zweifel an der Wirklichkeitstreue meiner Schreibarbeit sich zu schierer Schreibunmöglichkeit auswachsen kann.
    Warum habe ich die drei Racoons noch nicht erwähnt, die manierlichen Waschbären, die ich doch viel früher kennengelernt habe als Mrs. Ascott? Sie waren mir etwas unheimlich, wie sie
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