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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel
Autoren: Christa Wolf
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saßen, sagte er aus seinen Gedanken heraus, man müsse sich doch fragen, was es für die Evolution des Menschen zu bedeuten habe, daß bei gewissen Gelegenheiten unser Gehirn von einem Trieb überschwemmt werde, der stärker sei als die Ratio. Er hatte zu einem bestimmten Zeitpunkt sechshundert Dollar gewonnen, aber, anstatt aufzuhören, weitergespielt und nicht nur diesen Gewinn wieder verloren, sondern noch ein Sümmchen dazu.
    Bei den einarmigen Banditen saß die alte Japanerin morgens an demselben Platz, an dem sie gestern nacht gesessen hatte, und spielte wie besessen. Wir mußten an die Ratten denken, die bei einem Test unentwegt eine Taste drückten, so daß in ihrem Gehirn eine Art Orgasmusgefühl ausgelöst wurde, die darüber Essen und Trinken vergaßen und, unfähig, auf dieses Wohlgefühl zu verzichten, sich zu Tode gebracht hätten, wenn man sie nicht daran gehindert hätte.
    Mein Drang, diesem Ort zu entfliehen, wurde immer stärker. Wir fragten die ältere Frau an der Rezeption, bei der wir unsere Rechnung bezahlten, ob sie schon jemals in einer der Hallen gespielt habe. O never! rief sie aus. These people are ill!

    Schweigend fuhren wir aus der Stadt, die funkelnde, glitzernde Oase, die mitten in die Wüste gesetzt war, um uns in Versuchung zu führen. Sanna saß am Steuer, ich neben ihr. Wir fuhren und fuhren, es wurde unmenschlich heiß, die Klimaanlage unseres Autos schaffte es nicht mehr, die Temperatur zu regeln.
    Death Valley. Ja, so hatte ich mir die Wüste vorgestellt, endlose blendende Sandhügel. Sengende Hitze. An der TankstelleWarnhinweise, niemals allein in die Wüste zu gehen oder zu fahren, und niemals ohne Wasservorräte. Jedes Jahr fordere sie immer noch Opfer.
    Totes Tal. Tal der Toten. Dort lagen sie alle, meine Toten, und quälten sich aus ihren Gräbern, während ich über sie hinflog. Sieh nur hin, sagte Angelina. Wie lange war sie schon neben mir? Wie lange schwebten wir schon über der Landschaft? Ich dachte, ob die Toten mir vielleicht etwas sagen wollten. Angelina, die meine Gedanken kannte, sagte: Nein. Das sei ein Aberglaube der Lebenden, daß die Toten eine Botschaft für sie hätten. Zu ihren Lebzeiten waren sie nicht klüger, als die Lebenden es heute sind.
    Im Tod lernt man nichts. Das fand ich traurig.
    Angelina beachtete Stimmungen nicht. Sie wollte gar nicht wissen, ob ich Angst hatte vor der unheimlichen Anziehungskraft der Toten. Wir flogen der Küste zu. Das unvergleichliche Gefühl des Fliegens, Angelina neben mir. Ich wußte, daß es ein Abschied war. Eine Arbeit ist getan, Angelina, aber warum bleibt das Gefühl der Vollendung aus? Ein Wort trieb mir zu, das ich seit Wochen unbewußt gesucht hatte: Vorläufig. Eine vorläufige Arbeit ist zu einem vorläufigen Schluß gekommen.
    Angelina lachte: Aber ist es so nicht immer?
    Wir flogen vom nördlichen Rand her direkt hinein in den dichten Smog über L. A. Downtown blieb rechts liegen. Das kleine Land, aus dem ich kam, war es zu unbedeutend, um Anteilnahme zu verdienen? Stand über ihm von Anfang an nicht das Menetekel des Untergangs: Ins Nichts mit ihm? Wäre es möglich, daß ich um einen banalen Irrtum so sollte gelitten haben?
    Angelina erklärte kategorisch, das spiele keine Rolle. Gemessen würden nur Gefühle, keine Tatsachen.
    Es mochte ihr Beruf sein, da Bescheid zu wissen. Ich aber mußte mich fragen: Gemessen von wem? Mit welchem Maß? Angelina schien mir gewachsen zu sein, wie sie da – jauchzend,ja, fast hätte ich dieses unpassende Wort gebraucht – über die Landschaft flog, hin zum Yachthafen mit seinen Masten und weißen Segeln, weiter über der Küstenstraße zu dem riesigen Parkplatz mit seinen Hunderten von Autos, die in der Sonne blitzten und blendeten.
    Meine Bedenken fochten sie nicht an. Daß jetzt erst in Träumen – in Träumen, Angelina! – eine Ahnung mich anflog, worum es wirklich gehen müßte. Hätte gehen müssen. Die Erde ist in Gefahr, Angelina, und unsereins macht sich Sorgen, daß er an seiner Seele Schaden nimmt.
    Das seien die einzigen Sorgen, um die es sich lohne, fand Angelina, weil alles andere Unheil sich aus diesen ergebe. Der Flugwind wehte ihr Haar nach hinten. Schwarz ist schön, sagte ich, nachdem ich sie lange von der Seite betrachtet hatte.
    Wir näherten uns Venice. Ich erkannte die Gebäude, die schmalen Straßen, die Plätze, auf denen die Gaukler sich zeigten, auch an diesem Tag. Vor uns lag der makellose Bogen der Bucht von Santa Monica und Malibu (die
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