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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel
Autoren: Christa Wolf
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ein starkes Schlafbedürfnis ankämpfen. Aber ich hatte das Gefühl, ich hätte eine Art Vertrag mit der Macht abgeschlossen, die hier herrschte, und müsse diesen Vertrag nun erfüllen. Daß ich in einen solchen Zwang geraten würde, war das letzte, was ich hier erwartet hätte. Schon eher, was dann allerdings auch eintrat, daß die Atmosphäre narkotisierend wirken würde. Das heißt eine Dämpfung allerGefühle, damit sie nicht unter der Übermacht der Eindrücke, denen sie ausgesetzt wurden, zusammenbrachen.
    Genau das mußte der ausgemergelten Frau passiert sein, die sich für einige Minuten im italienischen Restaurant an unseren Tisch setzte, nachdem wir ihr verweigert hatten, womit sie ihr Geld verdiente: uns zu fotografieren. Sie schien uns nur ihren Job erklären zu wollen, doch dann ging ihr Monolog über in eine unaufhaltsame Klage und wurde immer mehr zu einer Anklage des Systems, jener Maschinerie, die sich Las Vegas nannte und in die sie als naive junge Frau hineingezogen worden war, als ihr Freund, der beim Roulette gewonnen und mit einer schlanken Schönen auf Nimmerwiedersehen aus den Spielhallen und vor ihr geflohen war, sie vollkommen mittellos hier hatte sitzen lassen: mit einem Monster, das sie nicht mehr aus seinen Fängen ließ, gnade Ihnen Gott, sagte die Frau, das frißt Sie mit Haut und Haaren, das nagt Ihnen auch noch die Knochen ab. Dafür war sie mit ihrem gespenstischen Aussehen, das sie mit viel Kosmetik notdürftig zu übertünchen suchte, ein warnendes Beispiel. Sie ahnen ja nicht, sagte sie, was hier hinter den Kulissen los ist. Was die sich alles ausdenken, bloß damit Sie ihnen Ihr Geld hierlassen. Bis auf den letzten Cent. Und wenn Sie den verloren haben und niemand kommt, Sie auszulösen, dann expedieren die Sie zur nächsten Bahnstation und geben Ihnen ein Billett ohne Rückfahrkarte. Und für die Selbstmörder, die sie im Morgengrauen in den Hotelzimmern einsammeln, haben sie einen diskreten Service eingerichtet. Kein Gast kriegt die düstere Seite dieser Wüstenstadt zu Gesicht.
    Aber wir wollten ja nicht die Untiefen der strahlenden Stadt ergründen, wir wollten zuerst noch ein paar Schritte in dieser glänzenden Scheinwelt herumlaufen, wir wollten die Vollkommenheit der Täuschung bestaunen, mit der wir durch einen kurzen Spazierweg nach Rom versetzt wurden, mit Häuserfassaden, die von den echten, die wir kannten, nicht zu unterscheiden waren, mit einem Himmel, der dem wirklichen Himmel Roms in nichts nachstand, nur daß er sich mit denHimmelskörpern alle Stunde einmal über der Stadt drehte und so einen ganzen Tageslauf imitierte. Plötzlich wußten wir nicht mehr, ob die Menschen um uns herum Besucher waren wie wir oder wirkliche Bürger dieses sagenhaften Rom. Mir wurde angst. Ich wollte schnell hier weg, aber es gab keinen Ausweg außer dem langen an den Spielsälen vorbei.
    Wir wollten uns zuerst an den einarmigen Banditen versuchen. Die standen in langen Reihen, und in langen Reihen saßen die Spieler vor ihnen, die sie bedienten und anzapfen wollten, dicht bei dicht. Das Geräusch, das zu hören war, manchmal leise, manchmal laut, war das Klimpern und Rasseln des Geldes, wenn eine der Maschinen mittels Hebeldruck gezwungen wurde, ihren Inhalt in den Auffangbehälter zu entleeren. Dann fegte der oder die Glückliche die Beute in das Plastikeimerchen, das sie alle mit sich trugen, dann sammelten sich weniger Glückliche um den Platz des Gewinners, um sich Mut zu holen, um sich durch scheue Berührungen mit mystischen Kräften aufzuladen, um, im besten Fall, dessen Platz einzunehmen. Und wenn eine Gewinnserie zu auffällig wurde, erschienen Abgesandte des Managements und kontrollierten unauffällig, ob alles seine Ordnung habe.
    Nachdem wir verstanden hatten, »wie es lief«, fanden wir Plätze an weit voneinander entfernten Maschinen. Halbherzig steckte ich meine Dollars in den Schlitz, zunehmend lustlos verfolgte ich die Mitteilungen meines einarmigen Banditen, der nur ein einziges Mal einen geringen Gewinn anzeigte, welcher meinen Verlust nicht ausglich. So ging es auch den anderen. Lowis erschien, ungeduldig, um mich mitzunehmen dorthin, wo »richtig gespielt« wurde. Woher Lowis Bescheid wußte und uns das System des Roulette erklären konnte, blieb uns ein Rätsel, er hielt sich nicht mit unserer Unwissenheit auf, fand einen Platz an einem der Tische und begann, sein Spiel zu machen. Ich setzte geringe Summen, verlor erwartungsgemäß und hörte auf, als ich den
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