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Die Hebamme von Venedig

Die Hebamme von Venedig

Titel: Die Hebamme von Venedig
Autoren: Roberta Rich
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Kapitel 1

    Ghetto Nuovo, Venedig
    1575
    U m Mitternacht herrschen Hunde, Katzen und Ratten über Venedig. Der Ponte di Ghetto Nuovo, die Brücke, die ins Ghetto führt, bebt unter dem Gewicht von Säcken voller faulendem Gemüse, ranzigem Fett und Ungeziefer. Ein formloser Brocken, vielleicht ein Tierkadaver, treibt auf dem schmierigen Wasser des Rio di San Girolamo, und durch den vom Kanal aufsteigenden Nebel dringen die Schreie und das Grunzen nach Futter suchender Schweine. Triefend nasser, aufgeweichter Abfall lässt das Pflaster glitschig, ja tückisch glatt werden.
    Es war eine solche Nacht, in der die Männer kamen und nach Hannah fragten. Sie hörte ihre Stimmen, schob den Vorhang ein Stückchen zur Seite und versuchte, auf den Campo hinunterzusehen. Ohne die Glut des Holzkohlenbeckens hatte sich dickes Eis innen auf den Scheiben gebildet und verschleierte ihr den Blick. Sie legte sich zwei Münzen auf die Zunge, verzog das Gesicht wegen des bitteren, metallischen Geschmacks, wärmte sie an und drückte sie mit den Daumen aufs Glas, bis sie zwei Sichtlöcher ins Eis geschmolzen hatten. Unten auf dem Platz sah sie zwei Gestalten mit Vicente reden, dessen Aufgabe es war, das Tor des Ghettos bei Sonnenuntergang zu verschließen und bei Sonnenaufgang wieder zu öffnen. Für einen Scudo führte er Männer, die nach Hannah fragten, zu ihrer Wohnung, aber mit diesen beiden schien er zu streiten; er schüttelte den Kopf und unterstrich seine Worte, indem er seine Kienholzfackel hin und her schwenkte, was ihre Gesichter in flackerndes Licht tauchte.
    Es kamen oft spätnachts noch Männer zu ihr, was in der Natur ihres Berufs lag, aber die zwei dort unten wirkten auf eine Weise fehl am Platz im Ghetto, die sie nicht gleich in Worte zu fassen wusste. Versteckt hinter ihren beiden Gucklöchern, betrachtete sie die beiden: Der eine war groß, breitschultrig und trug einen mit Pelz besetzten Mantel. Der andere war kleiner, stämmiger und steckte in einer seidenen Kniebundhose, die viel zu dünn für die kalte Nachtluft war. Die Spitzen an den Manschetten des Großen schlugen wie die Flügel einer sich putzenden Taube, als er zu ihrem Haus hin gestikulierte.
    Selbst durch das geschlossene Fenster konnte sie hören, wie er ihren Namen aussprach und dabei das »H« hinten in der Kehle formte, dass es wie bei den Aschkenasim mehr wie ein »Ch« klang. Seine Stimme hallte von den schmalen, messerförmigen Häusern wider, die den Campo einfassten. So weit schien alles ganz normal, und trotzdem stimmte etwas nicht. Sie brauchte eine Weile, bis sie begriff, was es war.
    Die beiden trugen schwarze Hüte. Dabei zwang der Erlass des Rates der Zehn doch eigentlich alle Juden, scharlachrote Baretts zu tragen, die das Blut Christi, das die Juden vergossen hatten, symbolisieren sollten. Die beiden waren Christen, und sie hatten kein Recht, nachts ins Ghetto zu kommen und Hannah um ihre Dienste zu bitten.
    Aber vielleicht urteilte sie vorschnell und sie wollten aus einem völlig anderen Grund zu ihr. Womöglich brachten sie Nachricht von ihrem Mann. Gebe Gott, dass sie gekommen waren, um ihr mitzuteilen, dass Isaak lebte und auf dem Weg nach Hause war.
    Vor Wochen, als der Rabbi ihr von Isaaks Gefangennahme berichtet hatte, da hatte sie an genau der Stelle gestanden, wo sie jetzt diese Männer sah, beim Brunnen, um Wasser zum Waschen zu holen. Sie war ohnmächtig geworden, so dass der schwere Holzeimer ihr auf den Fuß fiel, sich das Wasser aufs Pflaster ergoss und ihr Kleid durchnässte. Ihre Freundin Rebekkah, die neben ihr im Schatten des Granatapfelbaums stand, vermochte gerade noch Hannahs Arm zu ergreifen, sonst wäre sie mit dem Kopf auf den Brunnen geschlagen. So groß war Hannahs Gram, dass sie erst Tage später begriff, dass sie sich den Fuß gebrochen hatte.
    Die Männer kamen näher und zitterten in der Winterkälte. In Hannahs Wohnung verfärbte Feuchtigkeit Wände und Decke graubraun. Die Bettdecke, die sie sich um die Schultern gelegt hatte, um sich vor der Kälte der Nacht zu schützen, hing klamm an ihr. Sie zog den Stoff ein Stück höher, der mit der Erinnerung an Alpträume, Resten von Isaaks Geruch und dem Saft von Orangen durchsetzt war. Wie gern hatte er im Bett gelegen und sie mit Orangenstücken gefüttert, während sie sich über die Ereignisse des Tages unterhielten. Seit er in die Levante aufgebrochen war, um mit Gewürzen zu handeln, hatte sie das Bettzeug nicht mehr gewaschen. Eines Nachts würde er
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