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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel
Autoren: Christa Wolf
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den Kopf gehen lassen und zugleich in dem Konvolut blättern, das ich am Morgen auf dem Tisch meines Apartments vorfand, eine »First day survival information« des CENTER für alle Neuangekommenen. Die nächsten Lebensmittelmärkte, Coffeeshops und Apotheken sind aufgeführt. Der Weg zum CENTER ist beschrieben, auch die Regeln, nach denen es arbeitet, sind benannt, und natürlich wird sein Tag und Nacht besetzter Telefonanschluß bekanntgegeben. Restaurants und Bistros werden empfohlen, aber auch Buchhandlungen, Bibliotheken, Touristik-Routen, Museen, Vergnügungsparks und Stadtführer, und nicht zuletzt werden dem ahnungslosen Neuling die Verhaltensregeln für den Fall eines Erdbebens eingeschärft. Dies alles nahm ich gewissenhaft zur Kenntnis, studierte auch die Liste der Mitstipendiaten aus den verschiedenen Ländern, dieim nächsten halben Jahr meine Kollegen sein würden, die sich zu Mitgliedern einer freundschaftlichen Kommune entwickeln sollten und inzwischen wieder in alle Winde, das heißt in ihre Heimatländer, zerstreut sind.
    Ein schweres Erdbeben hat sich erst nach meinem Aufenthalt in der Stadt ereignet, für die der Andreasgraben, der unter ihr verläuft und große Erdschollen gegeneinander verschiebt, eine ständige Bedrohung bleibt. Hätte man mir ein Bild der Welt von heute gezeigt, ich hätte diesem Bild nicht geglaubt, obwohl meine Zukunftsvisionen düster genug waren. Der Rest von Arglosigkeit, mit dem ich damals noch ausgestattet gewesen sein muß, ist mir vergangen. Ein Vorsatz, der schwer zu befolgen ist, der uneingelöst bleibt und sich daher dauerhaft hält, ist mir geblieben: Der Spur der Schmerzen nachgehen.
    Darüber habe ich später oft mit Peter Gutman geredet, den aber kannte ich an jenem ersten Morgen noch nicht, er würde einer der letzten von meinen Kollegen sein, den ich kennenlernen würde, darüber haben wir dann gelacht. Überhaupt wurde viel gelacht in der Lounge des CENTER, wenn wir bei Tee und Keksen zusammensaßen, die Jasmine, die jüngere der beiden Sekretärinnen im office, pünktlich vormittags um elf und nachmittags um vier für uns bereithielt, ebenso wie die Zeitungen aller Länder, aus denen wir kamen, amerikanische natürlich, aber auch italienische, französische, deutsche, Schweizer, österreichische, sogar russische, obwohl kein Russe unter uns war, alle auf Holzleisten aufgezogen wie in einem Wiener Kaffeehaus, alle um ein, zwei Tage veraltet, was uns eine wohltuende Distanz gestattete zu den meist unerfreulichen Nachrichten, die wir ihnen entnahmen und die wir uns manchmal kopfschüttelnd gegenseitig vorlasen, als müßten wir in einen Wettbewerb eintreten um die betrüblichsten Zustände, die in dem jeweiligen Heimatland herrschten.
    Ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich sage, ich zog neugierigere Blicke auf mich als jeder andere aus unserem Kreis. Nicht nur, daß ich die Älteste war, daran mußte ich michgewöhnen, es war mein Herkunftsort, der mir eine Sonderstellung sicherte. Keiner war so taktlos, mich direkt darauf anzusprechen, aber sie hätten schon ganz gerne gewußt, wie eine sich fühlte, die geradewegs aus einem untergegangenen Staat kam.
    Das Morgenlicht fiel jeden Tag durch das Gitterfenster in meinen Schlafraum, gefiltert von einigem Rankenwerk, das sich an der Mauer des ms. victoria hochgearbeitet und mein Fenster teilweise erklettert hatte. Meine Morgenträume trieben mir Wörter zu, die ich später notierte: »Heillos«, lese ich herausfallend aus einem Zusammenhang, der verlorenging. Zuerst im Bett, dann auf dem Bettrand absolvierte ich jene wenigen Übungen, die ich mir verordnet hatte, weil ich, allein in diesem entfernten fremden Land, nicht krank oder bewegungsunfähig werden durfte, stieg dann im kleineren Bad, für das ich mich entschieden hatte, unter die Dusche, deren Kopf, anders als in Europa, fest an die Wand montiert war, so daß es besonderer Techniken bedurfte, um alle Körperteile zu benetzen. Das Frühstück, das ich mir von der mir unverständlichen Musik und den mir unverständlichen Nachrichten aus dem Stadtsender von Los Angeles begleiten ließ, setzte ich, mit schon gewohnten Handgriffen, aus zum Teil ungewohnten Bestandteilen zusammen, Muffins, ja warum denn nicht, eine eigenartige Müsli-Mischung und der Orangensaft, der mir nach einigen Fehlkäufen am vertrautesten erschien, nur mit dem Kaffee mußte ich noch experimentieren, ich mußte jemanden finden, der den Kaffeegeschmack der Germans kannte und mir unter den
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