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Morag und der magische Kristall

Titel: Morag und der magische Kristall
Autoren: Dawn A. Nelson
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Kapitel 1
     
     
    Der Drache, genauer gesagt die Drachin, blickte auf ein bedrohlich graues Meer hinaus. Die dunklen Wogen brachen sich am Strand unter der hügeligen Dünenkette, auf der sie seit dreißig Jahren zu Hause war. Ein wütender schwarzer Himmel warnte vor dem sich zusammenbrauenden Sturm, und die Drachin schauderte bei dem Gedanken, einen weiteren Winter ertragen zu müssen. Sie hatte von ihrem Platz auf der Düne viele solcher Unwetter gesehen, aber dieser Sturm würde besonders prächtig werden. Die Wolken waren schwer von Regen, und es sah so aus, als sei es nur eine Frage der Zeit, bevor der Himmel sich auftat und ein schweres Unwetter auf sie losließ. Sie machte sich Sorgen, dass die Backsteine, die ihren Leib formten, diesem jüngsten Unwetter nicht standhalten würden; sie kam sich alt und verbraucht vor. Der Wind zerrte an ihren kalten, steinernen Flanken und wirbelte ihr Sand in die reglosen Augen. Oh, was würde sie darum geben, wieder wirklich sie selbst zu sein; ihre steifen, schmerzenden Glieder zu recken, sich zu erheben. Frei zu sein.
    Und dann begann es zu regnen. Kalte, harte Regentropfen prasselten wie winzige Pfeile auf die steinerne Haut der Drachin. Sie wappnete sich innerlich gegen das schreckliche Wetter, das ihr bevorstand – allein und unglücklich für alle Ewigkeit.
    Einige Meilen weiter an derselben Küste, dort, wo ein großes Abwasserrohr über den Strand ins Meer führte, beobachtete ein kleines Mädchen in einem verfallenen Gästehaus vom Fenster ihres Zimmers auf dem Dachboden aus den herannahenden Sturm. Einsam und traurig kniete das Mädchen auf ihrem Bett unter dem Fenster und schaute durch das schmutzige Glas. Sie war gern hier oben, wo niemand sie sehen konnte. Hier konnte sie ihr eigenes Schicksal vergessen und sich Fantasien über das Leben der Menschen hingeben, die unten an den Strand kamen.
    Im Sommer beobachtete sie, wie die glänzenden Autos eins nach dem anderen auf das freie Feld in der Nähe rollten und es vorübergehend in einen Parkplatz verwandelten. Dann wurden die Autotüren aufgerissen und aufgeregte Kinder mit Schippen und Bällen quollen heraus und liefen zum Meer hinunter. Sie waren immer vor den Erwachsenen am Strand und forderten einander heraus, als Erster ins kalte Wasser zu gehen. Ihre Eltern bildeten die Nachhut, beladen mit gestreiften Sonnenschirmen und Picknickkörben, farbigen Sonnenhüten und Sonnencreme. Von ihrem Platz aus konnte Morag (denn so hieß das Mädchen) alles sehen. Auch die Freude und das Glück der Kinder, den Zusammenhalt der Eltern, die Liebe, die die Familie verband. Wie sehr sie sich wünschte, eins von diesen Kindern zu sein, die von einer Mutter oder einem Vater umarmt und geküsst wurden. Wie sehr sie sich nach einer Familie sehnte.
    Im Winter wurde der Strand kaum besucht. Nur Hundebesitzer trotzten der kalten Seeluft, die Gesichter angespannt in schneidendem Wind und salziger Gischt, während das Fell ihrer Hunde wild im tosenden Wind tanzte. Morag beobachtete die Hunde mit großer Freude und Sehnsucht; sie hatte sich immer einen Hund gewünscht, um den sie sich kümmern und den sie lieben konnte, aber Jermy und Moira erlaubten es nicht. Hunde sind zu schmutzig, sagten sie. Kosten Geld, sagten sie.
    Morag stieß einen langen, tiefen Seufzer aus. An diesem rauen Oktobermorgen tummelten sich keine Hunde oder Urlaubsgäste im Sand. Der Strand lag verlassen. Nicht einmal Meeresvögel trippelten am Wasser entlang. Morag wandte sich vom Fenster ab und stieg aus ihrem Bett. Sie sollte besser anfangen, sich um ihre Pflichten vor dem Frühstück zu kümmern. Sie wollte nicht wieder in den Keller gesperrt werden.
    Ihre Pflegeeltern, Moira und Jermy Stoker, lagen noch immer laut schnarchend in ihrem Schlafzimmer im unteren Stock. Morag konnte trotz des tosenden Unwetters hören, wie sie in ihrem Bett vor sich hin schnaubten, ohne den Sturm draußen wahrzunehmen. Donner grollte über dem kleinen Haus, Regen peitschte gegen die Fenster, und der Wind riss an Türen und Fensterläden. Morag schauderte. Im Haus gab es keine Zentralheizung und es war eiskalt. Barfuß und nur mit ihrem zu kleinen Pyjama und einem ausgefransten rosa Morgenmantel bekleidet, griff sie nach ihrem geliebten Buch und stopfte es sich in eine ihrer Taschen. Es war alles, was ihr von ihren echten Eltern geblieben war: ein rotes, in Leder gebundenes Buch mit alten Gedichten, etwa von der Größe eines Gebetbuchs, und auf der ersten Seite stand die
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