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Spittelmarkt

Spittelmarkt

Titel: Spittelmarkt
Autoren: Bernwald Schneider
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fühlen wie Sie. Das ist mit ein Grund, weshalb ich denke, es wäre das Beste, Deutschland auf Dauer zu verlassen.«
    »Sie fürchten ernstlich den Ausgang der Wahlen? Was soll sich denn ändern? Diese Wahlen werden bestimmt nichts Neues bringen.«
    »Oh doch!«, entgegnete Wolfrath. »Herrn Hitler als Reichskanzler zum Beispiel.«
    »Das ist ausgeschlossen!«, entgegnete ich. »Die Nationalsozialisten haben ihre besten Zeiten längst hinter sich. Sie können keine Mehrheit im Reichstag bekommen, verlassen Sie sich drauf!«
    »Darf ich Sie an etwas erinnern? Wir leben inzwischen in der Zeit der Präsidialkabinette«, sagte der Professor. »Auch ohne eine Mehrheit kann Herr Hitler Reichskanzler werden, wenn der greise Hindenburg sich dem Druck gewisser Kräfte beugt und ihn zum Präsidialkanzler ernennt. Und diese Gefahr ist umso größer, je mehr Stimmen die Hitlerpartei erlangt.«
    »Hindenburg wird ihn nicht ernennen, glauben Sie mir. Er hat das erst kürzlich mit aller Entschiedenheit abgelehnt.«
    »Ich traue dem Präsidenten nicht. Ihm nicht, und erst recht nicht den windigen Ratgebern des alten Mannes.«
    Eine Zeit lang herrschte Schweigen zwischen uns.
    »Wovor haben Sie Angst?«, wollte ich wissen. »Einmal unterstellt, es käme wirklich so, wie Sie befürchten.«
    »Ich bin immerhin Inhaber eines Lehrstuhls«, stellte der Professor fest, »und obwohl inzwischen getauft: Ich bin gebürtiger Jude.«
    Obwohl ich es eigentlich gar nicht wollte, merkte ich, dass ich etwas auf Distanz zu ihm ging. »Als jüdischer Inhaber eines Lehrstuhls kann man sicher mit Anfeindungen rechnen«, sagte ich im Bewusstsein, dass er in den Augen der Antisemiten ein Jude blieb, auch wenn er hundertmal übergetreten war. »Allerdings wird auch bei den Nationalsozialisten nichts so heiß gegessen wie gekocht!«
    »Viel heißer, als man kochen kann, mein Lieber!«, sagte der Professor leise. »Wenn es nur der Lehrstuhl wäre, würde ich mir weniger große Sorgen machen.«
    »Wir leben in einem zivilisierten Land«, äußerte ich und dachte mit zugeschnürter Kehle an mein Erlebnis mit den beiden Strolchen am Landwehrkanal. »Jedenfalls – sofern Sie an Pogrome denken, kann ich Ihnen versichern, dass derlei Dinge in Deutschland völlig undenkbar sind.«
    »Die Zivilisation ist kein Zustand, der ein für alle Mal festgeschrieben wäre«, widersprach mir der Professor. »Es hat schon stärker gefestigte Zivilisationen als Deutschland gegeben, die schließlich in der Barbarei untergegangen sind.«
    »Sie sehen zu schwarz, Herr Professor«, entgegnete ich, »wahrscheinlich haben Sie sich als Historiker zu lange mit dem Untergang alter Kulturen beschäftigt. Worüber werden Sie in Boston sprechen? Ich hoffe, es geht nicht um den Untergang Deutschlands?«
    Der Professor rang sich ein Lächeln ab. »Nein – höchstens am Rande. Vereinfacht gesagt, wird sich meine Vortragsreihe damit beschäftigen, wie schon Kunst und Archäologie des Altertums und Mittelalters dem Bestreben des Menschen Ausdruck gaben, sich aus irdischen Verstrickungen zu lösen und zu höheren Formen der Selbstbewusstheit hin zu befreien.«
    »Interessant«, sagte ich. »Das bringt mich auf eine Frage! Was denken Sie: Haben die geistigen Fähigkeiten des Menschen in der Aufeinanderfolge der Generationen zugenommen oder sind sie verkümmert?«
    »Inzwischen sind diese Fähigkeiten nahezu verschwunden«, konstatierte der Professor. »Wir leben in einer Zeit des immer schneller voranschreitenden geistigen Verfalls, und wenn wir nicht sehr aufpassen, mag sich am Ende ein Abgrund auftun, in dem wir alle versinken werden.«
    Die Bar hatte sich allmählich gefüllt, sodass inzwischen am Tresen wie auf der Tanzfläche ein regelrechtes Gedränge herrschte. Und sowie ich meinen Blick in die entgegengesetzte Richtung über die Gesichter der Menschen auf der anderen Seite des ovalen Tresen schweifen ließ, entdeckte ich auf Barhockern weit in der Ecke den Schauspieler Gustav Helmholtz und neben ihm die Artistin Irene Varo.
    »Noch habe ich etwas Hoffnung, dass es nicht die Deutschen sein werden, die der Menschheit das Tor zur Hölle öffnen«, merkte Wolfrath an. »Aber Sie wissen: Die Hoffnung stirbt zuletzt.«
    Mein Herz begann schneller zu klopfen und mein Interesse an der Unterhaltung mit Wolfrath ließ deutlich nach, bis ich gar nicht mehr mitbekam, was er als Nächstes sagte.
    Das Gesicht auf der anderen Seite des Tresens war unzweifelhaft eines aus der Vergangenheit, denn solche
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