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Spittelmarkt

Spittelmarkt

Titel: Spittelmarkt
Autoren: Bernwald Schneider
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angestrebte Richtung und sah die beiden wieder.
    Zu meinem Erschrecken standen sie jetzt nahe dem Haupteingang. Der Drahtige war gerade dabei, sich eine Zigarette anzuzünden. Entweder waren sie in meinem Rücken gewesen, während ich für die Zeitung anstand, oder sie hatten etwas getrickst und waren von außen erneut durch den Haupteingang in das Gebäude gelangt. Auf dem geplanten Weg konnte ich das Gebäude nicht mehr verlassen.
    Ich schob die Zeitung in die Manteltasche und ging in die Richtung, aus der ich gekommen war. Die Anzeigetafel für die Abfahrt der Züge geriet in mein Blickfeld, dahinter sah ich den Zugang zu den Gleisen.
    Im Nu schossen mir ein paar Gedanken durch den Kopf. Wo sollte ich in Berlin eigentlich bleiben? Die Stadt bot inzwischen keinen sicheren Platz mehr für mich. In meine Wohnung konnte ich nicht mehr, dort war ich dem Zugriff meiner Häscher am leichtesten ausgeliefert! Gab es jemanden, bei dem ich mich für eine Weile verstecken konnte? Nun, es gab ein paar Namen – aber war ich dort wirklich sicher? Wir lebten in neuen Zeiten, die Leute waren vorsichtig geworden, die meisten Menschen hatten Angst. War es nicht die Hauptsache, dass ich aus diesem gottverdammten Berlin herauskam – mit oder ohne meinen Koffer? Judith hatte meine Fahrkarte; den Zug konnte ich demnach nehmen! Notfalls würde ich eben irgendwo aussteigen, oder vielleicht konnten wir auch gemeinsam die Fahrt unterbrechen. Vielleicht konnte Judith mir ja helfen, meinen Koffer wiederzubeschaffen, bevor die Reise nach Frankreich morgen oder übermorgen weiterging. Warum hatte ich nicht längst an diese Möglichkeit gedacht?
    Der Nachtzug nach Paris wurde auf der Tafel noch angezeigt. Kurz entschlossen machte ich mich auf den Weg zum Abfahrtsgleis, beschleunigte meine Schritte, nachdem ich zehn Meter gegangen war, und begann schließlich zu laufen.
    Sowie ich den Bahnsteig erreichte, sah ich zahllose Menschen, die den Reisenden an den geöffneten Waggonfenstern zum Abschied winkten; die Abfahrt des Zuges stand unmittelbar bevor. Es herrschte ein ziemliches Gedränge und die Türen der Waggons waren bereits geschlossen! Es war allerhöchste Zeit – denn einige Augenblicke später kam der schrille Pfeifton, den zu hören ich mich so gefürchtet hatte: Das Signal, das unmissverständlich kundtat, dass der Zug sich im nächsten Moment in Bewegung setzen würde.
    »Eugen, Eugen!«
    Irritiert blickte ich auf. Dann sah ich sie. Judith, die aufgeregt winkend an einem der zahlreichen geöffneten Zugfenster stand.
    Keuchend erreichte ich das Fenster. »Ich komme, Judith!«, rief ich ihr zu und lief weiter, so schnell ich nur konnte. Nur noch ein paar Meter, dann hätte ich die Tür!
    »Zurücktreten! Bleiben Sie stehen! Der Zug fährt an!«
    Mit diesen Worten trat mir ein uniformierter Reichsbahnbeamter unvermittelt in den Weg, sodass ich um ein Haar mit ihm zusammenprallte. Wütend stieß ich ihn zur Seite, doch die Tür, die ich im Auge gehabt hatte, wanderte unerbittlich weiter. Ein letzter Sprung, den ich riskierte – vergeblich! Kurz bevor ich die Stufen des anrollenden Zuges erreichte, war die Tür bereits wieder weg. Gleich darauf sah ich das Fenster mit Judiths flehendem Gesicht an mir vorüberrollen; sie rief mir irgendetwas zu, das ich jedoch im allgemeinen Getöse nicht verstand.
    Verzweifelt lief ich dem davoneilenden Fenster mit Judiths Gesicht ein Stück hinterher, versuchte dabei eindringlich ihren Blick zu erwidern, so als ob ich mich dafür entschuldigen wollte, dass ich mit meinem Zögern alles verdorben hatte. Und erst in dieser Sekunde begriff ich wirklich, welche liebe und attraktive Freundin ich in ihr besessen hatte und welch ein wertvoller Mensch gerade aus meinem Dasein entschwand.
    Ich lief noch, bis Judiths Gesicht mit der Bewegung anderer Gesichter in anderen Fenstern verschwamm. Nachdem ich endlich stehen geblieben war, sah der Bahnsteig um mich herum ziemlich leer aus. Ohnmächtig stand ich da und starrte den allmählich verblassenden Lichtern des in die Nacht fahrenden Zuges hinterher – zwei, drei oder auch fünf Minuten lang, so lange, bis gähnende Schwärze den Horizont beherrschte.
    »Ich habe Sie erwartet«, hörte ich da eine weibliche Stimme hinter mir. Sie flüsterte leise, leise – und unfassbar zart.
    Langsam, ganz langsam drehte ich mich herum. Es war Panik, die mich am ganzen Körper erfasste.
    Die hohe, schlanke Gestalt mir gegenüber war in einen festen schwarzen Mantel mit
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