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Spittelmarkt

Spittelmarkt

Titel: Spittelmarkt
Autoren: Bernwald Schneider
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aus Berlin genau einen Tag zu spät antrat, und dass das, was noch am gestrigen Abend eine Leichtigkeit gewesen wäre, aufgrund der Geschehnisse der vergangenen Stunden ein extrem riskantes Unterfangen werden konnte. In einer Nacht, in der die SA auf Menschenjagd ging, um mit Gegnern des Regimes kurzen Prozess zu machen, konnte ein Bahnhof, von dem die wichtigsten Züge aus der Stadt abgingen, kein sicherer Aufenthaltsort sein. Je näher ich meinem Ziel kam, umso stärker verfolgte mich das dumpfe Gefühl, dass der Weg, den ich eingeschlagen hatte, der falsche war. Höchstwahrscheinlich lief ich meinen Gegnern direkt in die Arme.
    So sehr ich geneigt war, meinen Plan zu überdenken und eine andere Fluchtroute zu wählen, so dringlich verfolgte mich das Problem mit meinem Koffer, der sich in dem Schließfach auf dem Anhalter Bahnhof befand, und der alle meine persönlichen Dokumente einschließlich der Reisepapiere und fast mein gesamtes Geld enthielt. Ohne diesen Koffer war an eine Flucht, egal auf welche Weise, nicht zu denken.
    Ich schaute nach Norden. Der Himmel über der Innenstadt war gerötet; es war anzunehmen, dass der Reichstag inzwischen in hellen Flammen stand. Bleischwere Müdigkeit lastete auf mir, eine Erschöpfung hatte mich eingeholt, die wohl die Folge dieses ereignisreichen Tages war. Für einen kurzen Moment blickte ich mich nach einer Bank um, trotz der Kälte, fand aber keine und setzte meinen Weg fort.
    Als der Askanische Platz in Sichtweite kam und ich die Lichter des großen Bahnhofsgebäudes vor mir auftauchen sah, war ich noch immer unschlüssig, wie es weitergehen sollte. Im Schutz einer kleinen Baumgruppe blieb ich stehen und betrachtete die Szenerie vor meinen Augen. Das Bild, das sich mir bot, wurde geprägt von hin und her eilenden Menschen, die im Licht der Laternen wie flackernde Schatten wirkten, und von schwarz glitzernden schweren Limousinen, die im Vorüberrollen die Muskeln ihrer Motoren spielen ließen. Die Insassen der Fahrzeuge mochten wahrscheinlich völlig harmlose Leute sein, aber ich hatte gehört, dass auch die Menschenfänger in Zivil, von denen neuerdings so viel gemunkelt wurde, gern solche Karossen fuhren.
    Die meisten Fahrzeuge, die vom Askanischen Platz in die Stresemannstraße einbogen, kamen vom Excelsior, das dem Bahnhof gegenüber lag, ein Hotel, das palastartig und hell erleuchtet in den düsteren Himmel emporragte, das mehr als 600 Zimmer besaß und vorzugsweise vom Landadel der deutschen Provinz frequentiert wurde. Nachdenklich betrachtete ich die Fassade mit den erleuchteten Fenstern, und da fiel mir ein, dass das Gebäude durch einen Tunnel unterhalb der Stresemannstraße, früher einmal Königgrätzer Straße, mit der Halle des Anhalter Bahnhofs verbunden war.
    Ob ich verfolgt oder beobachtet wurde, wusste ich nicht, allerdings hatte ich allen Anlass, mich so zu verhalten, als befänden sich der Drahtige und sein Kumpan auf meiner Spur. Erst nachdem ich gesehen hatte, dass die Straße frei war, löste ich mich aus dem Schatten der Bäume, sprintete über die Fahrbahn und betrat etwas später die Empfangshalle des Hotels. Ich wandte mich nach links und eilte am Eingang einer der beliebtesten Berliner Kneipen vorüber, in der ich vor Jahren einmal einen durchzechten Abend mit Kollegen erlebt hatte – kurz darauf entdeckte ich den Lift, aus dem eben eine kleine Gruppe Reisender mit Koffern in den Händen die Hotelhalle betrat und mit dem ich zu dem Durchgang unter der Straße gelangte.
    Vorbei an Reklametafeln, die Werbung für Sinalco, Schaumpon und die neueste Damenmode machten, durchquerte ich zügigen Schritts die Unterführung und erreichte die Halle, unter deren hoher Kuppel auch an diesem Abend hektische Eile und Geschäftigkeit herrschten.
    Ein Blick auf die Anzeigetafel mit den Abfahrtszeiten verriet mir, dass der Zug über Halle und Bebra in Richtung Frankfurt am Main die Hauptstadt in kaum zehn Minuten planmäßig verlassen sollte. Ich eilte weiter zum Bahnsteig, auf dem es von Menschen wimmelte und ein ziemliches Durcheinander herrschte. Mittendrin forderten die uniformierten Herren in den roten Mützen bereits die Reisenden zum Einsteigen auf; sie winkten mit den Händen, studierten Platznummern und bedeuteten einzelnen Fahrgästen, wo sich das gesuchte Abteil befand. Es schien, als hätten es auch die Schaffner an diesem Abend besonders eilig, die Stadt zu verlassen; sie spürten wohl, dass Unheil im Anmarsch war oder sich längst unter der
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