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Spittelmarkt

Spittelmarkt

Titel: Spittelmarkt
Autoren: Bernwald Schneider
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und vertiefte mich in Schopenhauers Meisterwerk. Obwohl ich es bei einem Buch wie diesem nicht erwartet hatte, stieß ich bald auf eine Stelle, die mich ausgiebig an meine formvollendete Mitreisende denken ließ; die Stelle nämlich, an der sich der Philosoph dazu herablässt, mit kenntnisreicher Tiefe das Verhältnis von Schönheit und Nacktheit auszuloten. Mit trefflicher Begründung verbreitet er, dass einem schönen Körper eigentlich nur die leichteste, wenn nicht sogar keine Bekleidung angemessen sei, dass ein schöner Mensch, wenn er innerlich ganz wahr empfände, am liebsten wohl nackt oder zumindest fast nackt gehen müsste – und eingedenk des Beispiels, das ich vor meinem inneren Auge hatte, konnte ich nicht umhin, dem Verfasser gefühlsmäßig beizupflichten.
    Ich legte das Buch zur Seite und blickte aufs Meer hinaus, über dem der Horizont einen vollkommenen Anblick bot. Unter dem leuchtenden Himmel dehnte sich die ungeheure Größe des klaren, grünen Ozeans bis in unerreichbare Ferne. Sonderbar schattenhafte Gestalten flanierten vor dem Hintergrund der Weite und des blendend weißen Sonnenlichts an mir vorüber wie Gestalten eines Traums, von dem ich nicht wusste, ob er nicht vielleicht doch wirklich war.
    Irgendwann gegen Mittag wurde am Horizont der weiße Körper eines Ozeanriesen sichtbar, der an Größe und Gestalt der ›Bremen‹ glich und dessen Anblick die Passagiere, die sich an Deck tummelten, immer mehr in Bann zu ziehen begann; denn das Schiff schien es darauf angelegt zu haben, Jagd auf die ›Bremen‹ zu machen, um sie auf offener See zu überholen.
    Eine wachsende Anzahl von Passagieren hatte sich eingefunden, um das Schauspiel mit anzusehen, das es draußen auf dem Meer zu beobachten gab. Auch ich selbst stand schließlich an der Reling, um mich von dem Ereignis in der Ferne ablenken zu lassen.
    »Es ist die ›Normandie‹, ein französisches Schiff«, sagte jemand unmittelbar neben mir. Der Sprecher war ein schmaler, etwa 60-jähriger Mann mit unauffälligen, freundlichen Zügen.
    »Wetten Sie mit mir um ein Glas Kognak?«, fragte ich ihn. »Ich sage, sie schafft es und wird uns schlagen.«
    »Einverstanden! Ich halte dagegen. Der Angriff wird abgewehrt!«
    Langsam und stetig holte die ›Normandie‹ auf, doch immer, wenn sie kurz davor war, mit der ›Bremen‹ auf gleiche Höhe zu ziehen, schien diese Luft zu holen und sich noch einmal kräftig ins Zeug zu legen, so als hätten die Heizer im Bauch des Schiffes Anweisung erhalten, ihr Letztes zu geben, um eine Niederlage zu verhindern.
    »Es wird wohl eine Weile dauern, bis feststeht, wer der Sieger ist«, verkündete der kleine Mann an meiner Seite. »Ich heiße übrigens Wolfrath. Ernst Wolfrath.«
    »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Wolfrath«, entgegnete ich und stellte mich ihm vor. Während sich der Wettkampf in die Länge zog, kamen wir ins Plaudern. So erfuhr ich, dass mein neuer Bekannter ein Professor der Altphilologie und Geschichte aus Heidelberg war. Irgendwann ging er wieder, um einen Spaziergang zu machen, währenddessen ich zu meinem Liegestuhl und dem Buch zurückkehrte.
    Es war bereits Nachmittag, als die Französin unserem Dampfer abermals gefährlich nahe kam. Obschon viele Passagiere an der Reling die ›Bremen‹ lauthals zu neuerlicher Anstrengung anfeuerten, zog die französische Königin der Meere schließlich um eine Länge an ihr vorbei.
    »Möchten Sie den Kognak gleich oder später?«, fragte mich Herr Wolfrath, nachdem ich ihn kurz darauf an der Stelle, wo er mich eine Stunde zuvor verlassen hatte, wieder getroffen hatte.
    »Wenn es Ihnen recht ist, erst heute Abend; aber vielleicht werde ich derjenige sein, der die Zeche bezahlen muss. Sehen Sie: Die ›Bremen‹ hat noch nicht aufgegeben.«
    Der Wettkampf war tatsächlich noch nicht entschieden, und bald ertönten erneut die Hurrarufe der Mitreisenden, als die ›Bremen‹ mit ihrem etliche Seemeilen entfernten Hochseekonkurrenten wieder auf gleiche Höhe zog. Fast eine Stunde lang schienen die Schiffe um die Führung zu kämpfen, bevor die ›Bremen‹ vor ihrer Konkurrentin einen klaren Vorsprung gewann und die Französin um eine deutliche Länge zurückfiel. Erst am späten Nachmittag wurde die Konkurrentin nach achtern hin deutlich kleiner, und nachdem die Dämmerung eingesetzt hatte, verschwand sie schließlich vollständig hinterm Horizont.
    Beim Abendessen sagte Frau von Tryska zu mir: »Gewiss erinnern Sie sich an die
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