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Spittelmarkt

Spittelmarkt

Titel: Spittelmarkt
Autoren: Bernwald Schneider
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leuchtenden Haarschopf zurück. »Sie können ihn ja mal fragen!«
    Sie ließ ihren Blick zurück auf das Wasser schweifen. »Es war nett, Sie kennenzulernen«, hauchte sie mit einem zarten Lächeln. »Vielleicht sehen wir uns heute Abend wieder – oder morgen, es sind ja noch zwei Tage Fahrt bis zu unserem Ziel.«
    »Ich würde es mir sehr wünschen.«
    Mit einem gekonnten Kopfsprung, der kaum Wasser aufspritzen ließ, tauchte sie ins Schwimmbassin ein. Fasziniert sah ich zu, wie sie in langen Zügen durch das Becken schwamm, hin und zurück, vier- oder fünfmal. Anschließend sprang sie vor mir förmlich wieder aus dem Wasser, nahm ihre Brille und ihr Handtuch und schwebte auf ihren langen Beinen davon.

    Zuweilen eröffnete einem das Leben erstaunliche Welten, kam es mir in den Sinn. Es galt nur, die Tür zum Unerforschlichen offen zu lassen und sie dann und wann zu durchschreiten. Und es hing alles nur davon ab, dass einem der Sprung ins Ungewisse gelang.
    Später beim Essen lud mich Frau von Tryska ein: »Heute Abend läuft ›Der blaue Engel‹ im Bordkino! Möchten Sie mich nicht begleiten?«
    Ich sagte zu, und so kam es, dass ich nicht lange danach neben Frau von Tryska in einem voll besetzten Kinosaal saß.
    Das Publikum war begeistert. Es liebte vor allem das Spiel der Marlene Dietrich, die die Rolle der Tänzerin Lola Lola verkörperte. Mir persönlich gefiel ihr Spiel weniger gut. Emil Jannings in der Rolle des Professor Unrat hingegen war gut besetzt. Und gerade an diesem Abend konnte ich die Pein einer unerfüllten Sehnsucht gut verstehen.
    Als ich eine halbe Stunde nach Ende des Films in der Bar eintraf, saß der kleine Professor Wolfrath am Tresen und erwartete mich. Er schien sich nicht behaglich zu fühlen.
    »Ich leide noch unter den Nachwirkungen vom gestrigen Abend«, entschuldigte er sich, »aber wenigstens für ein Stündchen wollte ich meine Kabine verlassen, um ein wenig mit Ihnen zu plaudern. Ich würde gern an unser gestriges Gespräch anknüpfen.«
    »Sprachen wir nicht über Deutschlands Untergang?«
    »Ich hoffe, dass Sie meine Ansichten nicht lächerlich finden. Mir ist es ganz und gar ernst! Wir Deutschen haben unsere kulturelle Identität verloren; es rächt sich, wenn ein Volk die eigenen Mythen vergisst, dann erfindet es sich einfach irgendeinen chauvinistischen Unsinn.«
    Irene Varo war nirgendwo zu sehen, doch an einem der Tische saß der Schauspieler Helmholtz und spielte mit zwei anderen Männern Karten. Fast alle Tische im Lokal waren besetzt. Zudem war das Tanzparkett voller Paare, während die Band südamerikanische Rhythmen spielte.
    »Wir haben unsere Mythen nicht vergessen«, entgegnete ich, »andere haben sie uns geraubt.«
    »Geraubt?«, fragte der Professor. »Wer denn? Sie denken dabei nicht zufällig an die Juden?«
    »Ich dachte an die Siegermächte des Weltkriegs und an den schrecklichen Versailler Vertrag.«
    Der Professor machte eine ablehnende Handbewegung. »Das Vergessen hat schon lange vor dem Krieg eingesetzt. Ein Mann wie Hitler könnte keine neuen gefährlichen Werte heraufbeschwören, wenn sich die Deutschen ihrer selbst und ihrer Geschichte hinreichend bewusst wären. Das gilt auch für jeden einzelnen Menschen. Wenn er weiß, wer er ist, kann es ihm ein anderer nicht sagen!«
    »Gefährliche Werte? Ist das nicht übertrieben?«
    »Wenn ein irrationaler Wert wie der des Blutes eine alle anderen Werte überragende Bedeutung erlangt, kann von dem sinnstiftenden Mythos eines Volkes nicht mehr die Rede sein. Ein solcher Mythos ist gefährlich, es kann daraus etwas sehr Böses entstehen.«
    »Der Aspekt mit dem Blut ist wirklich widerlich. Aber die Menschen suchen eben Halt in einem Wert, der ihnen das Gefühl der Zusammengehörigkeit vermittelt. Ob man nun auf die Herkunft abstellt oder auf das Blut, da ist wohl kein Unterschied.«
    »Und warum stellt man nicht auf die Sprache ab?«
    Ich zuckte mit den Achseln. »Deren Bedeutung ist nicht geschmälert.«
    Etwas, das mir nur undeutlich bewusst wurde, veranlasste mich in diesem Moment, in Richtung der Tür zu sehen, und ich stellte fest, dass der kaum bewusste Eindruck nicht getrogen hatte. Von der Tür aus sahen mich zwei meergrüne Augen an; zwar nicht aus nächster Nähe, aber auch nicht von weit entfernt. Sie konnte eben erst die Bar betreten haben.
    »Eine Sprache kann man lernen, in die Tradition eines Volkes kann man hineinwachsen«, hörte ich Wolfrath sagen, »mit dem Blut wird eine Wertigkeit ins
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