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Späte Sühne - Island-Krimi

Späte Sühne - Island-Krimi

Titel: Späte Sühne - Island-Krimi
Autoren: Bastei Lübbe
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strömte, ihm wurde schwindelig. Eine ganze Weile stand er wie erstarrt da, doch dann begann das Blut wieder zu pulsieren.
    »Hallo«, sagte Arngrímur, hatte aber kaum Hoffnung, dass er eine Antwort bekommen würde.
    »Hallo«, wiederholte er, als sich die Gestalt nicht bewegte. Als darauf ebenfalls keine Reaktion erfolgte, tastete er nach dem Schalter an der Tür und machte Licht.
    Er brauchte eine ganze Weile, um sich über den Anblick klar zu werden, der sich ihm bot. Der Mann saß vornübergebeugt auf dem Schreibtischstuhl, die Hände hingen seitlich herunter. Es hatte ganz den Anschein, als betrachte er seinen gewaltigen Bauch, der mit einem senkrechten Schnitt von der Brust bis zu den Lenden aufgetrennt worden war. Der Schaft eines großen Messers ragte wie ein obszönes Symbol am unteren Ende des Schnitts aus dem Körper heraus. Arngrímur brauchte eine ganze Weile, um zu begreifen, dass auf dem Boden unter dem Stuhl nicht nur Blut war. Sowohl Gedärme als auch Mageninhalt waren aus der Bauchhöhle herausgequollen, sie hatten sich auf den hellen Parkettboden zu seinen Füßen ergossen und eine große Lache gebildet. Aus irgendwelchen Gründen blickte Arngrímur jedoch nicht dorthin, sondern auf die große Zigarre, die der Mann zwischen den Fingern hielt. Die Spitze bestand zu zwei Zentimetern aus Asche, was zeigte, dass die Zigarre in seiner Hand noch so lange gebrannt hatte, bis die Glut erloschen war.
    Kann es wirklich sein, dass er so dreist gewesen ist, hier zu rauchen, war der einzig klare Gedanke, den Arngrímur fassen konnte. Er bildete sich sogar ein, sein immer stärker werdendes Übelkeitsgefühl sei auf den Zigarrenqualm zurückzuführen und nicht auf den unerträglichen Gestank, der von den Eingeweiden auf dem Boden und der klaffenden Wunde im Bauch des Mannes ausging.
    10:30
    »Ich hab euch schon hundert Mal gesagt, dass ich nicht auf Fragen von irgendwelchen Halbaffen antworte«, sagte der Untersuchungshäftling zum vierten Mal und glotzte Birkir Li Hinriksson grinsend an. Die beiden saßen sich im Verhörzimmer der Reykjavíker Kriminalpolizei gegenüber.
    »Was hast du vorgestern Nacht gemacht?«, fragte Birkir zum fünften Mal, ohne mit einer Wimper seiner mandelförmigen Augen zu zucken. Derartige Bemerkungen konnten ihn nicht in seiner Arbeit beeinträchtigen. Er hätte zwar gut darauf verzichten können, doch er hatte es sich schon seit Langem zur Angewohnheit gemacht, sie einfach zu überhören. Worte konnten ihm nichts anhaben, schon gar nicht, wenn nichts als pure Ignoranz dahintersteckte. Er nahm das so gelassen hin, als würde ihn ein schlecht dressierter Straßenköter ankläffen.
    Birkir Li, der Ende 1970 in Vietnam geboren war, hatte damals nur seinen Vornamen Li besessen. Ins isländische Volksregister wurde er allerdings mit dem Geburtsjahr 1972 eingetragen, weil es keinerlei Auskünfte über ihn gab, und das Geburtsdatum wurde auf den 10. Januar festgelegt, den Tag, an dem er 1979 mit einer Gruppe von Flüchtlingen aus Malaysia in Island eingetroffen war. Zu diesem Zeitpunkt war niemand von seiner Familie mehr am Leben. Als später seine vietnamesische Pflegefamilie in die Vereinigten Staaten ging, blieb er zurück, wuchs bei einem älteren isländischen Ehepaar auf und nannte sich schließlich nach seinem Pflegevater Hinrik.
    »Was hast du in der vergangenen Nacht gemacht?«, fragte Birkir zum sechsten Mal.
    »In Ordnung, ich sag dir, was ich gemacht habe. Ich habe deiner Mutter zugesehen, wie sie da unten bei der Werft mit dem Gesocks von einem russischen Trawler rumgehurt hat, der Tripper lässt grüßen.« Der Gefangene wieherte vor Lachen und sah selbstgefällig zu Birkirs Kollegen Gunnar Maríuson hinüber, der angeödet am Ende des Tisches saß und den Kopf in die Hand gestützt hatte. Das Deckenlicht spiegelte sich auf Gunnars rosiger Glatze, und wenn er den Kopf schräg legte, lag sein üppiges Doppelkinn auf der Brust auf.
    »Ist nicht bald Zeit fürs Mittagessen?«, fragte er, als Birkir keine Anstalten machte, das Verhör fortzusetzen.
    »Es ist doch erst halb elf«, sagte Birkir.
    Gunnar sah den Gefangenen an. »Sollten wir das hier nicht hinter uns bringen?«, fragte er, richtete sich auf seinem Stuhl auf und beugte sich mit seinem massigen Oberkörper bedrohlich über den Tisch.
    In Reykjavíks Innenstadt war am Tag zuvor gegen Morgen in ein interkulturelles Begegnungscenter eingebrochen worden. Jemand hatte Feuer im Haus gelegt und einen leeren Safe in ein Auto
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