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Sozialstaats-Dämmerung (German Edition)

Sozialstaats-Dämmerung (German Edition)

Titel: Sozialstaats-Dämmerung (German Edition)
Autoren: Jürgen Borchert
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müsse, gebe es volkswirtschaftlich gesehen keine Möglichkeit einer Versicherung gegen irgendwelche sozialen Risiken. Anders als in der biblischen Naturalwirtschaft sei es in der arbeitsteiligen Geldwirtschaft nicht mehr möglich, Einkommensteile wie täglich verfügbare Getreidevorräte in künftige Perioden zu übertragen. Jeder Konsumverzicht (»Sparen«) verwandele sich nämlich sofort in Investitionen – Fabriken, Maschinen, Häuser – und sei damit dem laufenden Verbrauch entzogen. Desinvestieren ließen sich die Ersparnisse nur im Gebrauch, es bleibe schließlich ein Haufen Schutt und Schrott, aber keine Güter des täglichen Verbrauchs; leben könne man immer nur vom Volkseinkommen, welches die aktive Generation laufend neu erwirtschaften müsse. Das Versicherungsprinzip sei geeignet, den Einzelnen zu sichern gegen die Abweichung seines Falles von der sozialen Norm, es könne aber nicht die Volkswirtschaft sichern gegen eine Änderung der sozialen Norm, gegen eine soziale Katastrophe. Wenn beispielsweise Lebensversicherungen infolge demografischer Entwicklungen weniger Neuverträge schlössen, als an Altverträgen zu bedienen seien, müssten alle Institute gleichzeitig ihre Deckungskapitalien verkaufen, deren Preis dann ins Bodenlose falle.
    Der Nachwuchs und seine Produktivität sei deshalb Dreh- und Angelpunkt für jegliche soziale Sicherung, und der Lastenausgleich innerhalb jeder sozialen Klasse und Einkommensschicht zwischen denen, die Kinder zu unterhalten hätten, und Kinderlosen sei die sozialpolitische Großaufgabe des 20. Jahrhunderts. » Von dieser rein sachlichen volkswirtschaftlichen Grundtatsache aus muss der Umkreis dessen abgegrenzt werden, was wir als Sozialaufwand zusammenfassen und in unser Sozialbudget aufnehmen, innerhalb dieses Umkreises werden aber auch alle juristischen und historischen Unterscheidungen hinfällig, also die Unterscheidung von Sozialversicherung, Sozialversorgung und Sozialfürsorge, es ist alles Sozialaufwand.« Die schärfste Gegnerschaft werde dieser These aus den Reihen der Sozialversicherung erwachsen.
    »Meine Beiträge, meine Rente!«
    Er sollte recht behalten. Der völlig verfehlte Versicherungsbegriff blieb für das Rentensystem erhalten, obwohl dieses seit der Rentenreform 1957 unmittelbar auf der Einsicht der Mackenroth-These fußt. Dabei ist der Etikettenschwindel ja fast mit bloßem Auge zu erkennen: Weil bei einer allgemeinen Lebenserwartung von fast achtzig Jahren im Durchschnitt heute nämlich jeder das Rentenalter erreicht, handelt es sich bei der Sicherung des »Alters« um die – prinzipiell unversicherbare – soziale Norm; das war für die Bismarck’sche Rente bei einer Lebenserwartung von nur vierzig Jahren und einem Renteneintrittsalter von siebzig Jahren noch anders. »Alter« war damals nur ein Unterfall der – versicherbaren – Invalidität. Wenn dem entgegengehalten wird, dass aber doch das Risiko der unterschiedlich langen Ruhestände versicherbar sei, so wird übersehen, dass für dieses Risiko allein die Nachwuchsgeneration geradestehen muss. Wie man die Dinge also auch dreht und wendet: Der Versicherungsbegriff, welcher die den Alten über den Generationenvertrag geschuldeten und gezahlten Unterhaltsbeiträge terminologisch in Vorsorgeleistungen ummünzt, stellt die Dinge auf den Kopf. Will man für den sozialen Sachverhalt, der hier zu beschreiben ist, partout am Versicherungsbegriff festhalten, dann passt dieser allenfalls für das Risiko der Angehörigen der Kindergeneration, ohne die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) ihre eigenen, möglicherweise langlebigen Eltern jeweils unterhaltsrechtlich länger als durchschnittlich unterhalten zu müssen. So wird das System aber gerade nicht begriffen. Die Verwendung der Versicherungsterminologie entpuppt sich also als ein besonders schwerwiegender semantischer Betrug, weil er Abermillionen von Bürgern in den Irrtum verfallen lässt, sie hätten mit ihren Rentenbeiträgen selbst für ihr Alter vorgesorgt. Anders als in dem 1957 durch die neue Rentenversicherung abgelösten Unterhaltsverband der Familie können sie nicht mehr erkennen, dass sie mit ihren Beiträgen, die ja postwendend als Rente an die Ruheständler ausgezahlt werden, nur ihre Aufbringungsschulden gegenüber der Elterngeneration abzahlen und später ebenso selbst auf die Kindergeneration angewiesen sind. Heute weiß man nicht einmal mehr, dass keiner der Rentner, die am 23. Februar 1957 über Nacht lohnersetzende und
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