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Sozialstaats-Dämmerung (German Edition)

Sozialstaats-Dämmerung (German Edition)

Titel: Sozialstaats-Dämmerung (German Edition)
Autoren: Jürgen Borchert
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Existenzminimum
Erwachsener
8 130
16 260
16 260
16 260
16 260
Kinder

7 008
14 016
21 024
Frei verfügbares Einkommen/Haushalt
11 169
5 977
1 356
–3 427
–8 155
    Tabelle 4: Horizontaler Vergleich der Einkommen und Abzüge 2013 in Euro 94

    Wer diese Tabelle gründlich analysiert, für den ist die Ursache der grassierenden Kinderarmut kein Rätsel mehr. Denn die Tabelle fördert genau die Verteilungsfehler zutage, die in diesem Buch bereits vorgestellt wurden und vor denen insbesondere die Gründerväter des Sozialstaats Gerhard Mackenroth und Wilfrid Schreiber 1952 und 1955 eindringlich warnten: Weil Löhne Markteinkommen sind, sind sie vollkommen blind für die Frage, wie viele Mäuler davon zu stopfen sind. Die Fachleute sprechen hier von » individualistischer Engführung « der Markteinkommen; sie führt dazu, dass in marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften der Einzelne stets im Vorteil gegenüber Familien ist. Dem Staat obliegt deshalb die Aufgabe, diesen Fehler der Primärverteilung, der dort nicht zu ändern ist, im Rahmen der »sekundären« Einkommensverteilung durch das Steuer- und Sozialsystem zu korrigieren.
    Das geschieht in Deutschland jedoch deshalb nicht, weil (nur) die Löhne zu Lasteseln der Sozialversicherung gemacht werden, an welche die Beitragssysteme der Sozialversicherung anknüpfen und dabei den unterschiedlichen Leistungen, die Familien und Nichtfamilien für die Systeme erbringen, keine Beachtung schenken. Die Benachteiligung der Familien aus der Marktsphäre wird dadurch quasi im Maßstab eins zu eins in die sekundäre Umverteilung verlängert und im Ergebnis verdoppelt. Weil die Sozialversicherung im Gegensatz zur Einkommen- und Lohnsteuer kein Existenzminimum schont und der regressive Beitragstarif umso härter belastet, je mehr Personen von einem gegebenen Einkommen leben müssen, resultiert die grassierende Kinderarmut vor allem aus dem Beitragssystem der Sozialversicherung. Tabelle 4 macht diese doppelte Benachteiligung der Familien auf einen Blick sichtbar, denn mit Ausnahme der kleinen Differenz bei der gesetzlichen Pflegeversicherung zahlen Familien wie Kinderlose identische Sozialbeiträge; dabei ist der vorenthaltene Lohn in Gestalt des Arbeitgeberbeitrages, der insgesamt fast mit den Arbeitnehmeranteilen identisch ist, sogar noch unsichtbar. 95 Hier liegt die »Deep-Water-Horizon«-Ursache der Familienverarmung, und solange sie nicht beseitigt ist, kommt alle Familienpolitik dem vergeblichen Versuch der Bürger Louisianas gleich, jeden Tag aufs Neue mit Eimerchen und Schäufelchen der Ölpest an ihren Stränden Herr zu werden, welche die Explosion der Bohrinsel verursachte.
    Bei Familien, das ist das Fazit, kumulieren und kulminieren die Verteilungsfehler unserer Transfersysteme. Diese den Gleichheitsgrundsatz verletzenden Belastungen und Verteilungsfehler hat das Bundesverfassungsgericht im Trümmerfrauen- und Beitragskinderurteil längst identifiziert und ihre Beseitigung angemahnt, ohne dass der Gesetzgeber den Aufträgen nachkommt. Dass der gegenwärtige Zustand verfassungswidrig ist, steht deshalb außer Frage.
    Ungerechtigkeit auf die Spitze getrieben: Staatsfinanzierung durch Schulden
    Die ohnehin schon himmelschreiende Ungerechtigkeit der Staatsfinanzierung wird obendrein nun noch durch die horrende Staatsverschuldung gesteigert, deren Tücke weithin unbekannt ist und in der Öffentlichkeit kaum je zur Sprache kommt. Dort ist die Generationengerechtigkeit das große Thema – zu Unrecht, denn Gläubiger und Schuldner stehen sich ja nicht intertemporär im Zeitablauf, sondern stets aktuell gegenüber, so wie sich Schulden und Guthaben auch stets zu null saldieren. Die Argumentation mit der Generationengerechtigkeit lenkt also ab vom Kardinalproblem. Dies besteht bei den Staatsschulden nämlich darin, dass sie implizit Steuererleichterungen für Reiche beinhalten.

    Abbildung 6: Entwicklung der Schuldenstandsquote Maastricht – Schuldenstand in Prozent des BIP 96
    Grundsätzlich schreibt das Grundgesetz eine solide Haushaltspolitik vor, die ihren Bedarf aus laufenden Steuern deckt (Artikel 115 GG). Dabei ist der vom Bundesverfassungsgericht stets betonte »oberste Grundsatz der Steuergerechtigkeit« die Belastung nach Leistungsfähigkeit. Staatschulden enthalten nun eine dreifache Steuerprivilegierung ausgerechnet der Leistungsfähigsten, die nämlich zum einen die ersten Adressaten des staatlichen Steuerbefehls sein müssten, aber durch die staatliche
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