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Sonnenscheinpferd

Sonnenscheinpferd

Titel: Sonnenscheinpferd
Autoren: Steinunn Sigurðardóttir
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im gleichen Ton wie Zeitungsverkäufer an der Straßenecke:
Schnapsdrossel nicht voll! Kein Kerl bei der Schnapsdrossel!
    Konnte das sein? Wieso war sie nicht voll? Meine Neugier ließ mich einen Ausflug unternehmen, mich, das Mädchen, das nie irgendwo hinging, höchstens ins Milchgeschäft und vielleicht in die Stadtbücherei.

    Nellís Hinterhaus war nicht einmal ein richtiges Hinterhaus, sondern ähnelte eher einem Auswuchs aus einer Wand. Von denen gab es noch mehr in der Stadt. Die Anfänge solcher Auswüchse waren meist verzeihlich – sie schossen unversehens schräg aus Hauswänden hervor, von denen man es nie erwartet hätte, vielleicht zur Stütze, schienen dann eine Zeitlang so etwas wie ein Anbau werden zu wollen, kamen aber nach kurzer Zeit an einem Pfosten zum Stillstand oder an einer kleinen Mauer, bevor etwas anderes daraus geworden war als eine Ausbuchtung von der Größe dreier Plumpsklos.
    Heutzutage sieht man derartige Auswüchse kaum noch, weil Johannisbeersträucher sozusagen fürsorglich an sie herangewachsen sind. Einige von ihnen sind abgerissen worden, andere hat man renoviert und zu selbständigen Behausungen mit erneuerter Holzkonstruktion aufgemotzt, oder es wurden den Auswüchsen sogar weitere hinzugefügt, die man anschließend in einer seltsamen Farbe strich, wie um ihr Existenzrecht zu manifestieren.
    Nellís Hinterhaus gehört zu denen, die immer noch in unveränderterForm stehen. Weder Johannisbeersträucher noch Ampfer- oder Engelwurzbüschel verhüllen seine ominöse Existenz. Es wurde nie in irgendeiner Farbe gestrichen, weder in einer normalen noch in einer seltsamen. Da es nie jemandem eingefallen ist, diese Butze abzureißen, ist nicht auszuschließen, dass sie immer noch einem genügend tief gesunkenen Stiefkind des Lebens ein Dach über dem Kopf bietet.

    Nellís Haustür war offen, und zwei Stühle standen davor. Ich war so dreist, direkt bis zur Tür zu gehen und hineinzugucken.
    Nellí drehte mir den Rücken zu, sie scheuerte gerade das rissige Linoleum auf dem Fußboden. Bevor ich mich bemerkbar machen konnte, sagte sie plötzlich: Warte draußen auf mich, bis ich mit dem Boden fertig bin. Nimm Platz.
    Das konnte nur bedeuten, dass sie Augen im Nacken hatte, diese volle Person, die heute nicht voll war.
    Ich setzte mich und betrachtete die blütenweiße Wäsche auf der Leine. Der Bettbezug hatte einen Klöppeleinsatz, und die rosaroten Buchstaben auf dem Kopfkissen sagten:
Gute Nacht. Von spät bis früh
.
    Ich vergaß alles um mich herum, während ich das betrachtete, denn ich hatte ein geradezu krankhaftes Interesse an Bettwäsche. Ich schlich nach der Schule oft in die Gärten anderer Leute und inspizierte dort die Wäsche, ob sie ordentlich war, und verglich sie mit meiner. Nellís Wäsche war allererste Wahl.
    Sie setzte sich zu mir, als sie mit dem Putzen fertig war, und sagte, wir müssten noch ein bisschen hier draußen warten, damit der Fußboden trocknen könne, sonst müsse sie wieder von vorn anfangen.
    Dann erklärte sie mir, wie wichtig es war, die Dinge in der richtigen Reihenfolge zu erledigen:
    Erst backt man die Pfannkuchen. Dann wischt man über die Tische. Dann scheuert man den Boden und lässt ihn trocknen. Bevor man den Boden putzt, muss man erst über die Tische wischen, denn man will ja schließlich nicht Staub oder Krümel und Mehl auf dem frischgeschrubbten Boden haben. Sonst muss man wieder von vorn anfangen. Das Gleiche gilt, wenn man auf dem nassen Boden Tritte hinterlässt, dann muss der Boden neu gewischt werden. Daran solltest du immer denken, wenn du mal einen eigenen Haushalt hast. Wer die Dinge in der richtigen Reihenfolge erledigt, vermeidet doppelte Arbeit, und sich doppelte Arbeit zu machen gehört eigentlich zu den Hauptsünden.

    Diese Wörter,
doppelte Arbeit
und
Hauptsünde
, begleiten mich seither auf meinem Lebensweg. Sie passen so gut zueinander und befinden sich so wunderbar nah am Kern der Sache. Als sei das Dasein an und für sich schon doppelte Arbeit. Nicht genug damit, geboren zu werden – sterben muss man auch noch. Das klingt ganz nach doppelter Arbeit. Und im Grunde genommen ist es eine Hauptsünde, ein Mensch zu sein, denn das Leben verläuft in völlig verrückter Reihenfolge, wobei man nicht einmal weiß, was die richtige Reihenfolge ist; und selbst wenn man es wüsste, man hätte keinen Einfluss darauf; ergo entsteht daraus enorm viel doppelte Arbeit, was eine Hauptsünde ist, die jahraus, jahrein ihre
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