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Sonnenscheinpferd

Sonnenscheinpferd

Titel: Sonnenscheinpferd
Autoren: Steinunn Sigurðardóttir
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Sieh mal, Lí! Hör mal, Lí!

Ich stolperte nicht über die Schwelle im Mokka. Ich ging direkt auf dich zu. Du trankst einen Mittelstarken mit Milch, genau wie beim letzten Mal, aber nicht am gleichen Tisch.
    Grüß dich, und willkommen daheim, sagte ich, darf ich mich zu dir setzen.
    Bitte sehr.
    Und du lächeltest wie früher mit den Augen, und auch mit dem Mund – was aber immer viel seltener gewesen war. Jetzt gab es Fältchen um den Mund herum, die auf mehr Fröhlichkeit als in unserer alten Zeit hindeuteten. Der eine Schneidezahn oben war ein wenig schief geworden und unterstrich verschmitzt den unerwartet frohen Zug an dir in einer neuen Zeit.
    Erst hole ich mir einen Kaffee.
    Lass mich.
    Das war etwas, was du oft sagtest:
Lass mich
.
    Ich setzte mich und beobachtete dich am Tresen, schlaksig attraktiv, am Beginn der neuen Zeit, sah dir zu, wie du den Kaffee für mich bezahltest und mir mit den sicheren Händen brachtest, die ich von früher im Gedächtnis hatte und sofort als verändert wahrnahm: die langen Finger, vor allem der kleine und der Zeigefinger, waren jetzt ein wenig gekrümmt, und die Hände sonnenbraun; und all die vergangene Zeit hatte sich in diesen warmen Händen niedergelassen. Jetzt schloss ich sie ins Herz.

    Im Anschluss ans Mokka gingen wir wie immer spazieren. Ich war darauf eingestellt, trug den blaugrauen langen Mantel, genau die gleiche Farbe wie der Anorak, den du mir im Scout-Geschäft ausgesucht hast. Das einzig Farbige, was ich mir je gekauft habe, abgesehen von dem türkisblauen Badeanzug.
    Wir gingen in den Garten des Einar-Jónsson-Museums und setzten uns auf eine Bank inmitten der Skulpturen. Die Worte wichen von uns. Die Skulpturen hätten aber viel zu sagen gehabt, wenn sie hätten reden wollen, denn sie bewahrten die Geschichte von uns beiden auf, jedes Wort und viele Küsse in diesem Garten.
    Als wir da in dieser trauten Umgebung saßen, warst du so gut, deine neue sonnenbraune Hand über meine farblose Hand zu legen. Bruchstücke aus meinem Leben preschten aus allen Richtungen heran und trachteten danach, ein Ganzes zu bilden, vielleicht eine zusätzliche Skulptur im Garten. Das verwirrte mich, und ich legte meinen Kopf an deine Schulter, wie ich es sehr oft in diesem Garten getan habe, wie ich mich ganz genau erinnere, es oft in diesem Garten getan zu haben, bevor wir durch alle Straßen mit Ausnahme der Grettisgata weitergingen, durch die ich nicht gehen wollte. Du fragtest, warum, und ich sagte einfach: Darum. Du sagtest, das ist keine Antwort, und ich antwortete nicht.

Als ich klein war, gab es in Reykjavík eine VOLLE FRAU IN EINEM SCHUPPEN und viele kleine Rotznasen, die diese Frau verspotteten. Die Frau hätte vermutlich in jedem x-beliebigen Viertel zu Hause sein können, vorausgesetzt, dass es dort einen Schuppen, eine Baracke, ein Hinterhaus oder eine genügend heruntergekommene Bretterbude gab. Eine von diesen vollen Frauen hieß angeblich Virginía und lebte in einem Schuppen in der Nähe der Seemannsschule mitten in der Stadt. Kinder aus der Oststadtschule machten sich unter Lísas Führung auf den Weg dorthin, um das in Augenschein zu nehmen. Sie fanden einige solcher Baracken, aber keine solche Frau.
    Alleinstehende Frauen, nicht unbedingt voll, konnten auch in einem separaten Schuppen auf freier Flur leben, beispielsweise in der Fossvogur-Bucht, und manchmal hatten sie Hühner. Einige von diesen Frauen hielten sich nicht nur Hühner, sondern auch einen Dichter, und dann war es meist der Dichter, der voll war.
    Die Kinder von der Oststadtschule hatten es besonders auf die volle Frau in einem Hinterhaus an der Grettisgata abgesehen. Sie hieß Nellí und hatte angeblich in einem Anfall Gras gefressen. Deswegen wurde sie ursprünglich Grasdrossel genannt. Das Wort stammte von Lísa. Aber das ließ sich noch steigern – wo es sich doch so glücklich traf, dass die Grasdrossel auch trank –, indem man sie Schnapsdrossel nannte.
    Lísa war die Anführerin einer Bande, die sich durch Pöbeleien und Raufereien hervortat. Sie übertraf alle anderen imErfinden von Kraftausdrücken und Spottnamen, und bei Prügeleien war sie schlimmer als die Jungs. Sie ließ es nicht bei Kneifen und Kratzen bewenden wie die anderen Mädchen. Zudem war sie hinterhältig, was in der Oststadtschule sonst keineswegs verbreitet war. Sogar der Sportlehrer hatte Manschetten vor ihr.
    Eines Morgens in der Schule skandierten alle aus der Bande
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