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Sturmjahre

Sturmjahre

Titel: Sturmjahre
Autoren: Barbara Wood
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Prolog
New York, 1881
    {6} Sie hatte einen merkwürdigen Traum gehabt. Sein Inhalt hatte sich verflüchtigt, aufgelöst im morgendlichen Sonnenlicht, das durch das Fenster strömte, aber die düster beklemmende Stimmung wirkte noch nach. Vor irgend etwas hatte sie große Angst gehabt, aber sie konnte sich nicht mehr erinnern, was es gewesen war. Vorahnungen? Ein Blick in die Zukunft?
    Ach was, sagte sie sich, Träume sind Schäume. Kopfschüttelnd, wie um sich von den dunklen Schleiern zu befreien, setzte sie sich auf und glitt aus dem Bett. Ehe sie ins Badezimmer lief, trat sie zum Fenster, um einen Blick hinauszuwerfen. Schamhaft im Verborgenen bleibend, schob sie den Chintzvorhang zur Seite. Die Straße war belebt, wie es in dem verschlafenen kleinen Lucerne nur äußerst selten vorkam. Kutschen rollten vorüber, Pferde trabten mit klirrenden Eisen über das Kopfsteinpflaster, Kinder und Hunde jagten umher, ehrwürdige Herren in Gehrock und Zylinder bevölkerten die Bürgersteige.
    Aber keine Frauen waren zu sehen.
    Stirnrunzelnd zog sich Samantha vom Fenster zurück. Die Frauen würden also nicht kommen …
    Bei ihrer Ankunft vor zwei Jahren hatten sich die Frauen von Lucerne gegen sie zusammengeschlossen. Sie hatten ihr Unterkunft verweigert und sie auf der Straße geschnitten. In jenen ersten einsamen Tagen war Samantha für die Frauen des Städtchens ein Objekt kalter Verachtung gewesen, für die Männer der Gegenstand frivoler Spekulation. Welche junge Frau setzte sich schließlich in einen Unterrichtsraum voller junger Männer und hörte sich mit ihnen gemeinsam Vorträge über Dinge an, die für die Ohren anständiger Frauen wahrhaftig nicht geeignet waren? Es war klar, daß Samantha Hargrave eine Bedrohung für die Moral der einheimischen Jugend darstellte.
    Samantha hatte gehofft, diese Vorurteile und Ängste hätten sich im Verlauf der vergangenen zwei Jahre gelegt. Wenn aber die Frauen auch der Abschlußfeier an diesem Tag fernblieben, so konnte das nur bedeuten, daß sie an ihrer Mißbilligung Samanthas festhielten.
    Tief getroffen, aber entschlossen, sich durch den Boykott den Tag nicht verderben zu lassen, holte Samantha Hargrave einmal
     tief Atem und begann mit der Morgentoilette.
    Nachdem sie Wasser aus dem Porzellankrug in die Schüssel gegossen {7} hatte, hielt sie einen Moment inne und musterte ihr Bild im Spiegel über dem Waschtisch. Es wunderte sie beinahe, daß sie nicht anders aussah als am Tag zuvor, obwohl doch mit dem neuen Tag auch ein neuer Lebensabschnitt für sie begann. Sonst durchaus zufrieden mit ihrem Aussehen, dachte sie jetzt mit einem Anflug von Ironie: zu hübsch. Und nicht alt genug.
    Wagte man es als Frau, den Arztberuf zu ergreifen, so mußte man ständig um Anerkennung kämpfen; war die Frau dazu noch jung und hübsch, so hatte sie kaum eine Chance. Während Samantha vor dem Spiegel stand, versuchte sie, sich wie eine Fremde zu betrachten, ihr Gesicht objektiv zu sehen: die hohe, gewölbte Stirn, die schmale Nase, der weiche Mund mit den leicht aufgeworfenen Lippen – lauter Hemmnisse für eine junge Frau, die ihren Weg in einer Männerwelt machen wollte. Wird man mich als Ärztin je ernst nehmen, fragte sie sich zweifelnd.
    Ihre Augen, das wußte sie, waren das Ungewöhnlichste und Faszinierendste an ihrem Gesicht. Von langen, dunklen Wimpern umkränzt, lagen sie wie Katzenaugen unter den schön geschwungenen Brauen. Das helle, beinahe durchsichtige Grau der Iris, von einem schwarzen Ring umrandet, erweckte bei vielen Menschen den Eindruck, sie könne klarer und tiefer sehen als die meisten.
    Samantha nahm ihre morgendliche Reinigung wie viele Frauen vor. Auf einer Gummimatte stehend, rieb sie ihren Körper mit Seife ein und wusch mit Wasser aus der Schüssel nach. Eine Sitzbadewanne, wie in den Häusern der Wohlhabenden und Fortschrittlichen, gab es hier noch nicht. Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, nahm sie ihr Korsett aus Baumwolltwill und schnürte es mit flinken Händen, aber nicht so fest, daß es ihr die Luft nahm. Samantha konnte sich glücklich preisen: von Natur aus schlank und zierlich gebaut, hatte sie es nicht wie viele andere Frauen nötig, sich um der modischen Wespentaille willen so gewaltsam einzuschnüren, daß nachher nur noch eine Dosis Morphium gegen die Schmerzen half.
    Als sie in ihre Spitzenhose stieg und sie an den langen, wohlgeformten Beinen emporzog, fiel ihr plötzlich etwas ein, und sie mußte lächeln. Damals allerdings hatte
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