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Sonnenscheinpferd

Sonnenscheinpferd

Titel: Sonnenscheinpferd
Autoren: Steinunn Sigurðardóttir
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war unsere Welt hinter der Welt. Einhundertzwanzig Quadratmeter, auf denen sich die Wärme des Hauses sammelte, denn Wärme steigt nach oben, auch in der Sjafnargata.
    Wenn keine Schule war, begannen wir den Tag meist damit, im Schlafanzug die Holztreppe hochzuklettern. Wirhüllten uns in zerrissene Laken, zündeten die Arbeitsleuchte mit dem langen Kabel an, die wir Hund nannten, und zogen ihn zwischen abgetakeltem Diwan und Wäschemangel Nähmaschine Schaukelstuhl hinter uns her.
    Der Dachboden war die Domäne des Sjafnargata-Gespensts, das in unterschiedlicher Gestalt auftreten konnte, beispielsweise in weiblicher, und dann hieß es Rallalall, oder in männlicher, das war Hallilall. Dieses Arztgespenst unternahm riskante Operationen im Dachboden-OP, mit verrosteten Instrumenten, die denselben Patienten abwechselnd umbrachten und heilten.
    Mein kleiner Bruder musste viele zweischneidige Herzoperationen auf der Arztliege aus dem Zweiten Weltkrieg über sich ergehen lassen. Ich begann damit, ihm mit einem roten Kugelschreiber ein Herz auf den Brustkorb zu zeichnen. Dann stellte ich mich mit dem Hund in der einen und dem gezückten Skalpell in der anderen Hand vor ihm auf.
    Soll ich dir dein Mistherz rausschneiden, du armes kleines Luder?
    Was kommt stattdessen rein?
    Gesäuerte Blutwurst im Herzbeutel.
    Na gut.
    Und ich vollzog die Operation nach allen Regeln der Kunst. Zuerst musste der Patient betäubt werden, damit er sich nicht regte, wenn ich mich abrackerte, ihm das Herz herauszusäbeln, und ich verstand mich derart meisterhaft auf Anästhesie, dass er sich niemals regte.

    Das Rautenfenster auf dem Dachboden war hoch oben, und Kinder konnten nur hinaussehen, wenn sie sich auf einen Stuhl stellten. Dann tat sich der Garten unter einem auf sowie ein Teil der Sjafnargata, ein schmaler Streifen Meer und der Himmel.
    Als Mummi und ich endlich auf die Idee gekommenwaren, Kissen auf Stühle zu stapeln, saßen wir stundenlang am Fenster. Wir spielten unsichtbar, und das waren wir auch, unsichtbar. Nie konnte ich erkennen, dass der Postbote oder Straßenpassanten zwei Kindergesichter im Rautenfenster unter dem First des steingrauen Hauses bemerkt hätten.
    Einmal fotografierte ein Ausländer das Haus, als wir am Fenster waren. Ich stelle mir vor, dass auf einem Foto irgendwo auf der Welt zwei kleine Kindergesichter existieren, die beim Entwickeln zum Vorschein kamen wie hinter beschlagenen Fenstern.
    Die Jahreszeiten glitten an unseren Kinderaugen vorüber. In der ewig langen dunklen Jahreszeit warteten wir beim gespenstischen Schein des Hundes auf den ersten Schimmer von Tageslicht, auf die Osterglocken am Tor und die ersten Blättchen an den Birken, auf die wir schräg hinuntersahen, und das erste Dirrindí des Goldregenpfeifers.
    Wenn bereits vielstimmiger Gesang von Zugvögeln ertönte, warteten wir auf den Sommer, der den Bäumen in unserem Garten große Blätter bescherte, vor allem dem Nasenbaum. Genauso war es ein Anzeichen für Sommer, wenn die Frau von gegenüber sich in Unterhose auf dem Balkon sonnte. Nur Mummi und ich konnten sie aus unserem Rautenfenster sehen.
    Mummis Idee war es, sie die Schlüpfer-Frau zu nennen. Ihr passierte ein Malheur nach dem anderen, und sie war so etwas wie ein Fixpunkt für uns, denn sie lebte in einem Haus voller Gefahrenquellen. Die Türangeln ähnelten eher Spiralfedern, deshalb war ihre Nase bereits ziemlich platt und das Veilchen am Auge so gut wie angewachsen, weil sie unentwegt mit den Türen zusammentraf, wenn sie aus einem Zimmer ins andere schlüpfte.
    Wenn es Mummi und mir im Rautenfenster reichte, mummelten wir uns manchmal auf dem Diwan, auf demsich die Sprungfedern abzeichneten, in alte Kleidungsstücke ein und erzählten uns Geschichten wie
Das kleine Trampel mit den Streichhölzern
und
Schneewittchen und die sieben Tuberkelzwerge
. Das kleine Trampel beendete sein Leben, indem es sich mit seinen Streichhölzern selber anzündete, weil ihm so kalt war. Und die Weihnachtsbratenleute in ihrem warmen Haus sahen den Feuerschein und sagten: Da verbrennt jemand Müll, und das am Weihnachtsabend.
    Bruchstücke von Reimen aus Grimms Märchen flossen ein:
    … nähe mir die Naht, ziehe mir den Draht …
    … eneke, beneke, lass mich leben …
    Nach dem Arztgespenst-Spiel und dem Unsichtbar-Spiel war das Tot-Spiel am lustigsten. Man konnte halb tot, richtig tot oder mausetot sein. Mummi war imstande, sich total mausetot stellen, kraftlos bis zum Gehtnichtmehr, mit
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