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Sommerstueck

Sommerstueck

Titel: Sommerstueck
Autoren: Christa Wolf
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stand. Eine blaugrün schillernde Libelle wollte sich auf ihrem orangefarbenen Pullover niederlassen. Jenny sah ihr dabei zu. Wie wird mir denn! sagte sie und nahm sich fest vor, in dieser Sekunde zum letzten Mal in ihrem Leben an ihren Physiklehrer zu denken, der in ihren Augen ein Ferkel war und den sie ihre Meinung unverhohlen hatte spüren lassen. Schön ist es ja nicht, wenn ein Mensch einen haßt, aber wenn es gar nicht anders geht... Auch Sie wird das Leben Mores lehren, denken Sie an meine Worte! O nein, Herr Kranz. Den Gefallentu ich Ihnen nicht. Jenny würde auch nicht auf die Idee kommen, unter Individuen wie diesem zu leiden. In Tages- und Nachtgesprächen hatte sie das mit Tussy durchgenommen: Es gebe Dinge, auch Leute, die müsse man kaltblütig unter Verlust verbuchen. Dreiundsiebzig, sagte Tussy. Mensch, der schafft uns.
    Ob Bella käme? Ob es sicherer wäre, sie noch einmal anzurufen? Neunundvierzig, fünfzig... Auch Luisa zählte die Kuckucksrufe. Wenn Ellen sie hörte. Ihnen glauben könnte. Was glauben? Daß sie direkt mit dem Zählwerk ihrer Lebensjahre gekoppelt waren? Luisa saß, wie jeden Morgen, in ihrem Zimmer vor dem Spiegel zwischen den Fenstern, der ihr auch heute wieder wie ein drittes, nach innen gerichtetes Fenster erschien, von dem ein Sog ausging, dem sie standhalten mußte. So hatte sie Grund, jeden Morgen so lange vor diesem Spiegel zu sitzen. Vielleicht hätte sie ihn doch nicht aus ihrem Mädchenzimmer hierher mitbringen dürfen. Weil doch im Haus ihrer Eltern über allem und jedem ein Fluch lag – Eltern! ein Schauderwort! –, oder jedenfalls eine Fremdheit, die sich auch in der anderen Umgebung nicht verlor und ihren geliebten Spiegel zum Fremdling in ihrem Zimmer machte. Zum Fremdherrscher, in den alle anderen Gegenstände sich bedingungslos hineinwarfen und sie, Luisa, verräterisch im Stich ließen: ihr Biedermeierbett mit dem bronzefarbenen Überwurf, die schmalen, schiefen Bücherregale, der runde Tisch mit den grünen Glas voll langstieliger Rosen, die vier mattgolden schimmernden Holzstühle mit ihren gebogenen Lehnen, auch der zweite größere Spiegel an der Wand gegenüber und sogar der feste Eckschrank mit dem Jägerporzellan. Jetzt, wo sie Beistandbrauchte, wo ihr Widerstand gegen die Übermacht der Dinge auch von draußen her untergraben wurde, da der Wald, der ein paar hundert Meter hinter dem Haus begann, seit ein paar Tagen näherrückte. Sie spürte das im Rücken, ohne ihn, den Wald, durch die Mauern durch sehen zu können. Oder doch? Hatte sie da eben eine grüne Wand im Spiegel gesehen? Das wäre nicht gut. Der Wald, der im Frühjahr noch fern und fest dagestanden hatte, mußte sich in einem Moment, den sie verpaßt hatte, auf den Weg gemacht haben, so daß seine Dunkelheit in ihr wuchs und sie es angebracht fand, ihn allein nicht mehr zu betreten. Mit Bella, ja. Mit Bella und Jonas – das ginge. Ob sie kämen? Das beste wäre, auf alle Fälle Kuchen zu backen. Sie mußte sich nur schnell fertig machen. Antonis sah herein. Wo sie denn bleibe. Aber sie konnte ihm ja nicht antworten. Er wußte es, aber er probierte immer wieder, sie zum Reden zu bringen. Meine Frau spricht nicht mehr mit mir, hatte sie ihn am Telefon zu Ellen sagen hören. Dabei hatte sie es ihm aufgeschrieben, was die Frau in Wimmersdorf ihr geraten hatte: drei Tage zu schweigen. Nicht aufgeschrieben hatte sie ihm, wie sehr dieser Rat ihrem eigenen inständigen Wunsch entgegengekommen war. Aber diesmal würde sie es aushalten, daß Antonis dieses Schweigen als gegen sich gerichtet empfand. Der Kuckuck, immer noch. Luisa hatte aufgehört zu zählen.
    Die geläufige Bewegung des Haaraufsteckens. Nun die Augen. Die Pinselchen, Wimpernbürstchen, Farbtäfelchen auf dem alten Nähtisch vor dem Spiegel. Auf die Lider heute dunkles Grün. Mit schwarzem Stift der Augenbraue einen kräftigeren, selbstsicheren Bogen geben.Tusche auf die Wimpern, trocknen lassen. Das Tuschen der Sicherheit halber wiederholen. Nun gab der Spiegel ihr das Bild einer anderen zurück. So konnte sie zur Not unter die Leute. So hätte sie sich sogar den Blicken aller dieser Männer in den Städten aussetzen können. Zwar zog sie sie auf sich, die Männerblicke, mit ihrem geschminkten Gesicht, da mochte Ellen recht haben, aber es war ja nicht sie, Luisa, die sie mit ihren zügellosen Blicken auszogen, zurichteten. Eine namenlose andere, und sie, Luisa, ging ungesehen und unerkannt ganz unscheinbar unter Schutz und Schild, in
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